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Der Stammgast

Der Stammgast

Titel: Der Stammgast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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…«
    Nouchis Blick wanderte zu den Schuhen hinunter, die nun wirklich nichts vormachen konnten, denn sie waren abgetragen und wurden nur durch das Weiß der Gamaschen etwas aufgewertet.
    Insgesamt paßte alles zu Avernos’ Restaurant mit diesem Uzun, Vizedirektor einer Konkurs gegangenen Bank, und diesem Müfti Bey, den die Revolution ruiniert hatte.
    »Ist Jonsac dein richtiger Name?«
    Er zog es vor, die Frage nicht zu beantworten, und sie bestand nicht weiter darauf.
    »Schlaf jetzt«, sagte sie. »Die Sonne geht auf. Wenn du mich nicht mehr haben willst, sagst du es mir morgen früh oder vielmehr heute vormittag. Ich bin müde …«
    Sie schloß die Augen, sie wollte schlafen. Mit bleiernen Lidern ging Jonsac ins Bad und kam im Morgenmantel über dem Schlafanzug wieder. Er beugte sich über das Bett, sah Nouchi an, die zu schlafen schien, beugte sich tiefer, um ihr die Stirn zu küssen.
    Mit geschlossenen Augen murmelte sie, als würde sie schon träumen:
    »Weißt du, sehr interessant sind deine Freunde nicht …«

3
    Als Jonsac die Augen aufschlug, sah er neben sich ein leeres, von der Sonne erwärmtes Bett, und er brauchte eine Weile, bis er sich wieder das Leben zu zweit vergegenwärtigt hatte, das er erst wenige Tage führte. Er richtete sich so jäh auf und blickte so erschrocken um sich, daß er die in einer dunkleren Ecke stehende Nouchi gar nicht bemerkte.
    Sie kicherte, und er brachte in seiner Verlegenheit bloß hervor:
    »Bist du schon angezogen?«
    »Es ist Mittag.«
    Sie hatte schon ihr schwarzes Kostüm an und war eben dabei, sich vor dem Spiegelschrank ihren grünen Hut aufzusetzen.
    »Hattest du Angst, ich sei einfach verschwunden?«
    Statt zu antworten, fragte Jonsac mißlaunig:
    »Wohin gehst du?«
    Durch das weitoffene Fenster drang der Straßenlärm herein. Nouchi war frisch und munter, Jonsac hingegen streckte noch ganz schlaftrunken die Hand nach dem Wasserglas aus.
    »Ich bin mit Müfti Bey verabredet«, verkündete sie seelenruhig.
    »Wie? Mit Müfti Bey? Wann habt ihr das ausgemacht?«
    »Gestern abend auf der Grande Rue, als wir ein Stück hinter euch gingen. Er sagte, er habe ein paar sehenswerte türkische Objekte, die er mir zeigen wolle. Auch der Bildhauer hat mich zu sich eingeladen. Er wohnt in einer alten Moschee am Bosporus.«
    Sie spitzte neckisch die Lippen, er blieb die Antwort schuldig und wartete darauf, daß sie sich umdrehte, damit er aufstehen und den Morgenmantel anziehen konnte.
    »Du hast sicher in der Stadt zu tun«, sagte sie. »Wir treffen uns am Nachmittag wieder hier.«
    Sie war schon über die Schwelle, als sie noch einmal den Kopf durch die Tür streckte und meinte:
    »Mach dir nichts draus. Müfti Bey ist harmlos!«
    Eine Viertelstunde später schlenderte Jonsac allein durch die Straßen von Pera in Richtung Botschaft. Müfti wohnte ganz in der Nähe, im selben Gebäude wie der dicke Selim Bey, bei dem sie einen Teil der Nacht verbracht hatten. Er war versucht, dorthin zu gehen, doch er wollte sich nicht lächerlich machen und setzte seinen Weg durch die belebten Straßen fort, in denen ihn immer wieder Straßenbahnen zwangen, auf den engen Gehsteig auszuweichen.
    Zweimal stieß er Passanten an und stammelte Entschuldigungen. Seine Stirn war voller Falten, sein Blick unstet, seine Finger zuckten nervös.
    Was konnte überhaupt passieren? Ja, was konnte eigentlich passieren? Und wie war alles gekommen? War er es gewesen, der Nouchi mitnehmen und mit ihr leben wollte? Oder war sie es gewesen, die sich an ihn gehängt hatte?
    Dazu diese Fragerei nach Geld und Beruf! Sie hielt ihn für einen Abenteurer, das war klar. Sie wollte nicht einmal glauben, daß Jonsac sein wirklicher Name sei!
    Er durchschritt den Park der Botschaft, ging an den Dienern vorbei, klopfte im zweiten Stock an eine kleine Tür und betrat das Büro des Botschaftsrats.
    Sein Monokel, seine hohe Statur, seine vollkommene Korrektheit bestimmten noch immer sein Erscheinungsbild. Er streckte sogar mit einer gewissen Vertrautheit dem jungen Mann hinter dem Mahagonischreibtisch die Hand hin. Doch es war eine respektvolle Vertrautheit, und er setzte sich erst, als er dazu aufgefordert wurde.
    »Ich darf Sie einen Moment um Geduld bitten …«
    Der junge Mann beendete eine begonnene Arbeit und telefonierte anschließend, derweil Jonsac schweigend, den Hut auf den Knien, wartete.
    Endlich raffte der Botschaftsrat einige Papiere zusammen und steckte sie in einen gelben Umschlag, den er dem Besucher

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