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Der Stammgast

Der Stammgast

Titel: Der Stammgast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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stand, nahm die erstbeste und goß zwei Gläser voll.
    »Versuchen Sie, so fröhlich wie die anderen zu sein! Auf Ihr Wohl!«
    Uzun strich in der Nähe herum, Müfti Bey sicherte sich den nächsten Tanz. Jonsac, der ein ganzes Glas süßen Likör getrunken hatte, schenkte sich ein zweites ein.
    Was dann folgte, war schon verschwommener. Gestalten huschten vorüber. In einem Studierzimmer bemerkte er Stolberg, wie er Nouchi eine Mappe mit Stichen zeigte, und Nouchi winkte ihm freundschaftlich zu.
    Mißmutig setzte er sich in eine Ecke, doch Selim Bey kam und erzählte ihm die Geschichte vom Sultan mit dem perlendurchwirkten Bart. Die Musiker, die ebensoviel getrunken hatten wie die Gäste, ließen die Finger über ihre Instrumente gleiten.
    Wo man sich im Haus auch befand, überall war der Bosporus gegenwärtig, er schwappte gleichsam durch alle offenen Türen und Fenster herein. Ein dünner Strich Gischt zog sich an den Steinstufen entlang, und in der Dunkelheit ahnte man Kayiks, die, durch das Licht und die Musik angelockt, sich dem Haus näherten.
    »Bernard!«
    Es war Nouchis Stimme, die Jonsac in das Studierzimmer rief, in dem sie die Kupferstiche bewundert hatte.
    »Schau mal, was Stolberg mir da geschenkt hat!«
    Am peinlichsten war, daß Stolberg seelenruhig daneben stand und offenbar gar nicht auf den Gedanken kam, er könnte Jonsac eifersüchtig machen.
    Nouchi hielt eine Statuette hoch, die aus einem einzigen Stück Bernstein geschnitzt war.
    »Hübsch, findest du nicht auch?«
    »Ja, wirklich.«
    Er verzog sich lieber. Die Statuette war eines der wenigen schönen Stücke, die Stolberg besaß, und mehrere tausend Francs wert.
    Er begann wieder seine Wanderung treppauf, treppab. Er sah Leyla erst mit Uzun, dann mit Müfti Bey tanzen. Über die Brüstung der Terrasse erbrach der Bildhauer das Essen.
    Man hatte allgemein das Zeitgefühl verloren. Jenseits des Bosporus funkelten die Lichter von Stambul, und die aus dem Haus dringenden Laute bildeten neben dem Geplätscher der Wellen die einzigen Nachtgeräusche. Die Musik des Grammophons vermischte sich mit den träumerischen Klängen der alten Instrumente.
    Vielleicht eine halbe Stunde lang hing Jonsac allein in einer Ecke der Terrasse seinen trüben Gedanken nach. Dann brachte ihm der betrunkene Kalmücke ein Glas, das er in einem Zug hinunterleerte.
    Die Umrisse wurden immer verschwommener. Ein Teil der Kerzen war erloschen. Als er an einem Boudoir vorbeikam, hatte er das deutliche Gefühl, daß dort zwei eng verschlungene Gestalten sich endlos küßten.
    Nouchi oder Leyla? Es war ihm gleichgültig, welche von beiden es war. Diese wahllose Gier, diese infame Wollust rings um ihn herum verletzten ihn zusätzlich. Er machte einen Umweg, weil Selim Bey ihn ansah, und stieß mit dem Albaner zusammen, der immer noch Pfeifen herrichtete. Genau im selben Augenblick erscholl auf der Terrasse am Wasser ein nervöses Gelächter.
    Es war Leyla, die schrie:
    »Aber ihr dürft nicht schauen! … Nur wenn ihr schwört, daß ihr nicht schaut …«
    Tiefere Männerstimmen antworteten. Wo war Nouchi? Irgendwo mit Stolberg zusammen. Schattengestalten bewegten sich zur Terrassenbrüstung hin, um zu sehen, was vor sich ging.
    »Aber nicht allein!« kreischte Leyla mit sich überschlagender Stimme.
    Fast gleichzeitig klatschte etwas ins Wasser, worauf Gelächter und Gejohle erscholl. Gegen seine Absicht näherte sich Jonsac dem Geschehen, und er sah, daß das Kalmückengesicht sich in den Bosporus gestürzt hatte und jetzt prustend und schnaubend wie ein Springbrunnendelphin auftauchte.
    Männergestalten umringten Leylas weißes Kleid, Hände grapschten nach dem Stoff.
    »Das mach ich selber!« wehrte sie sich. »Und daß keiner herschaut!«
    Jonsac war am weitesten von ihr entfernt, mindestens zehn Meter weit. Er sah, wie sie mit ein paar schnellen Bewegungen Kleid und Wäsche fallen ließ.
    Viel mehr als ein kurzes Aufschimmern des nackten Körpers war nicht zu sehen. Das Wasser teilte sich von neuem, Leyla war hineingetaucht und schwamm jetzt zügig hinaus, doch die Nacht war nicht finster genug, um die weiße, vom Wasser verzerrte Form zu verschlucken.
    »Kommt jetzt zurück!« begann eine ernste Stimme zu mahnen, die Jonsac nicht erkannte.
    Das Mädchen schwamm schnurstracks ins Offene hinaus, gefolgt vom lachenden Delphin. Der Mann war nicht nackt. Er war ins Wasser gesprungen, wie er gerade war, mit allen Kleidern, und das kalte Wasser hatte ihn nicht ernüchtert. Wenn er

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