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Der Stammgast

Der Stammgast

Titel: Der Stammgast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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Bernard?«
    Stolberg war weniger fröhlich und bereute es möglicherweise, Nouchi Leuten vorgestellt zu haben, die höhergestellt waren als er. Er war denn auch der erste, der vom Umkehren sprach.
    »Der Abend wird kühl«, gab er zu bedenken.
    Nouchi war anderer Ansicht:
    »Kann uns die Jacht nicht nach Stambul bringen?«
    »Ihr Wunsch ist mir Befehl …«
    »Und was ist mit dem Auto?«
    »Der Fahrer wird es zurückbringen.«
    Das nannte sie ein Leben! Und wie sie auflebte! Durch sämtliche Poren sog sie die laue Luft, die Sonne, die wollüstige Wärme des Bosporus ein. Sie war schön, so schön, wie sie es sich ihr Leben lang erträumt hatte, und Jonsac war aus unerfindlichem Grund zum Heulen zumute.
    Als ein flammendroter Himmel die Dämmerung ankündigte, wandelte Müfti Bey auf dem Deck auf und ab und deklamierte für sich allein Gedichte, während Jonsac nicht einmal mehr das Grammophon hörte und gedankenverloren den Blick über Wasser und Uferlandschaft schweifen ließ.
    Die Botschaften zogen nacheinander an ihnen vorbei, auf die großen Yali folgten kleinere, bescheidenere Landhäuser, die meist reichen Kaufleuten von Pera gehörten.
    Ab und zu begegnete ihnen ein Ruderboot, ein Kanu oder ein Paddelboot. Es war nicht mehr die luxuriöse Pracht von Therapia, auch nicht mehr das pralle Leben um die Ausflugslokale. Die Gebäude waren Landhäuser mit roten Dächern und grünen Fensterläden, Rosen blühten in den Gärten, in denen ältere Herrschaften in cremefarbenen Leinenkleidern frische Luft schöpften.
    »Bernard!«
    Es war schon eine Gewohnheit bei Nouchi, ihm alle naslang zuzurufen, er solle dieses oder jenes anschauen.
    »Schau mal dort, der gelbe Kahn …«
    Unweit eines weißes Hauses bewegte sich ein Boot langsam vorwärts; die junge Frau, die allein darin saß, ruderte ziel- und willenlos vor sich hin. Sie war etwa hundert Meter entfernt, doch Nouchi ergriff das Ruder und ließ das Segelboot eine Kurve auf sie zu beschreiben.
    Lange vor den anderen hatte sie gesehen, daß es Leyla war. Nun sahen es alle, doch das Mädchen nahm noch keine Notiz von den Passagieren des Seglers. Erst als die Jacht ganz dicht an sie heranfuhr, hob sie den Kopf und bemerkte erst Nouchi, dann Jonsac.
    »Kommen Sie mit uns?« rief Nouchi und winkte mit dem Schal.
    Leyla schüttelte den Kopf und blieb unbeweglich im gelben Boot sitzen. Jonsac wandte sich ab. Er hätte nicht sagen können, was er empfand. Er war traurig, seine Stimmung ähnelte dem verdämmernden Horizont, dessen Minarette der aufkommende Nebel nach und nach verschluckte.
    Das Haus am Ufer war das Haus der Pastore, und trotz der Entfernung glaubte Jonsac auf den grünen Gartenstühlen die etwas untersetzte und füllige alte Dame und den grauhaarigen Vater mit seinem Spitzbärtchen zu erkennen.
    »Sie hat ihren Selbstmordversuch inszeniert, um sich interessant zu machen!« hatte Nouchi behauptet. »Es war ein Mittel, um das Band zwischen ihr und dir fester zu knüpfen.«
    Er hatte sie wieder besucht. Nouchi selbst hatte ihn dazu gedrängt, nach ihr zu sehen.
    Die Eltern hatten ihn mit Tee und Gebäck bewirtet und ihn dabei mit neugierigen Blicken beobachtet, in denen ebensoviel Sympathie wie Mißtrauen lag.
    Für sie war er ein Mann, ein Fremder, der ihnen vielleicht ihre Tochter wegnehmen würde. Von Nouchi wußten sie nicht einmal, daß es sie gab. Sie bewahrten eine vorsichtige Zurückhaltung und gaben sich manchmal aufmunternd, dann wieder reserviert.
    »Monsieur de Jonsac ist Mitarbeiter der Botschaft«, hatte Leyla ihnen gesagt.
    Daß er nur Dragoman war, hatte sie verschwiegen. Sie hatten sicherlich wissen wollen, ob sich sein Name in einem Wort schreibe oder in zwei.
    »Du mußt sie weiterhin besuchen«, befand Nouchi. »Man kann nie wissen …«
    Was konnte man nie wissen? Jonsac begann ihr zu glauben, wenn sie behauptete, Leyla sei in ihn verliebt. Jedenfalls war sie eifersüchtig. Wenn sie allein waren, fragte sie jedes Mal:
    »Was macht Ihre reizende Nouchi?«
    Oder:
    »Findet Nouchi es nicht befremdlich, daß Sie mich besuchen kommen?«
    Was wußte sie denn? Sie wußte natürlich, daß sie zusammenlebten. Sie hielt sie für ein Liebespaar.
    »Kennen Sie sich schon lange?«
    »Nicht sehr …«
    »Wissen Sie, daß ich Nouchi sehr gern habe?«
    Arme Leyla! Jonsac wagte nicht, sich nach dem Boot umzudrehen, das regungslos im bläulichen Abendlicht auf dem Bosporus lag, während die Jacht sich unter der Abendbrise neigte und Kurs auf das Goldene Horn

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