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Der Stammgast

Der Stammgast

Titel: Der Stammgast Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
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hörte nur noch Fetzen des Gesprächs.
    »Alles hängt davon ab, ob die Familie Anzeige erstattet …«
    »Leyla ist volljährig, längst volljährig …«
    »Sie hat es bewiesen, indem sie sich bei Stolberg nackt auszog!«
    »Ja, wo ist übrigens Stolberg?«
    »Er kommt, sobald die Luft rein ist …«
    Der Albaner hatte eine Pfeife gestopft, die offenbar auch geraucht wurde, denn süßlicher Haschischgeruch erfüllte nach und nach das Zimmer.
    Zwischendurch döste Jonsac immer wieder halb ein. Wörter und Bilder wirbelten in ihm durcheinander, seine Gedanken waren ein einziges Wirrwarr von zusammenhanglosen Eindrücken und Erinnerungsfetzen.
    »Ist ein Beckenbruch schlimm?«
    Alle sahen auf, als Tevfik Beys Schritte ertönten. Er hatte den ganzen Abend lang gearbeitet. Seine Züge waren klarer als die der anderen, und er brachte etwas wie frische Luft in das Tiefgeschoß.
    »Alles bestens!« verkündete er, bevor jemand eine Frage gestellt hatte. »Ist Stolberg denn nicht hier?«
    »Was ist bestens?«
    »Eben ist ein Freund der Familie zu mir in die Redaktion gekommen. Er hat sämtliche Zeitungen aufgesucht und darum gebeten, daß die Berichterstattung eingestellt wird. Das besagt, daß die Eltern keine Anzeige erstatten und die Polizei die Sache auch nicht weiter verfolgen wird.«
    »Dann kann ich ja jetzt gehen«, meinte Amar Paşa und stand auf. »Es ist noch Zeit, mich umzuziehen und zum Fest beim Ghasi zu gehen.«
    Er verabschiedete sich etwas überstürzt. Selim Bey sah ihm spöttisch nach.
    »Nummer zwei!« sagte er.
    »Warum Nummer zwei?«
    »Der zweite gute Freund, der uns sitzenläßt! Stolberg ist ja auch noch nicht da!«
    Dieser rief freilich wenig später an, um sich berichten zu lassen. Als er erfuhr, daß alles zum besten stand, legte er auf und klopfte keine zehn Minuten später an die Tür.
    »Wie konnten Sie so schnell herkommen?«
    »Ich war im › Régence‹.«
    Es war das nächstgelegene Restaurant, und er hatte dort den Ausgang der Ereignisse abgewartet!
    »Ich habe immer gedacht, daß es gut enden würde. Wissen Sie, daß die Geschichte in aller Munde ist?«
    Jonsac hörte immer weniger. Er bekam noch vage mit, wenn jemand ging, doch wer, das war ihm schon einerlei.
    Sie schliefen zu viert in der Wohnung: Müfti Bey selbst, der Albaner, der sich auf einen Teppich legte, Nouchi und Jonsac.
    Als dieser aufwachte, war es zehn Uhr. Der Albaner war schon beim Einkaufen, die beiden anderen schliefen noch.

11
    »Zumindest sollten Sie zwei Monate Urlaub nehmen«, hatte der Botschafter gesagt.
    Man befand sich im Sommerloch, und es ist nicht leicht, einen guten Dragoman zu finden, einen Franzosen, der einerseits genügend weltgewandt ist und eine gründliche Kenntnis der Sprache und der Landessitten besitzt, andererseits aber nicht zu hohe Ansprüche stellt.
    Nur ein Mal hatte der Botschafter Jonsac ohne Monokel gesehen, und das war ausgerechnet dieses eine Mal, wo Jonsac, als von Nouchi die Rede war, auch noch den Kopf abwandte und gegen die Tränen kämpfte.
    »Ich hoffe zuversichtlich, daß Sie uns künftig solche unangenehmen oder ärgerlichen Zwischenfälle ersparen werden.«
    Müfti Bey war für einige Wochen in Griechenland, wo er seit zehn Jahren einen aussichtslosen Prozeß um die Ländereien führte, die seine Familie dort vor dem Krieg besessen hatte.
    Amar Paşa war für länger weg, er begleitete den Außenminister nach Washington. Er wurde immer häufiger als künftiger Minister gehandelt.
    Tevfik Bey war in Stambul geblieben.
    Selim war, statt in Urlaub, für einige Tage nach Ankara gefahren, wo er sich in den Ministerien die Füße wund lief. Aus dem Posten im Ausland wurde trotzdem nichts.
    Uzun ließ sich nicht mehr blicken. Erst im Herbst sollte man erfahren, daß er in Berlin wegen Betrugs verhaftet worden war.
    Ein Sommer war das! Tagsüber drückend heiß, nachts schwül, alle zwei oder drei Tage ein heftiges Gewitter. Der Botschafter war zu seiner jährlichen Kur nach Vichy gefahren, und die Botschaft war wochenlang wie verwaist.
    »Ich sollte nach Frankreich fahren und versuchen, meinen Bauernhof wieder zu vermieten«, sagte Jonsac jeden Tag.
    Er hatte erfahren, daß sein Pächter das Korn nicht mehr hatte verkaufen können und mit seiner Familie und dem Vieh weggezogen war, so daß die Felder jetzt brachlagen.
    »Ich fahre in einigen Tagen …«
    Doch er fuhr nicht. Er hatte nichts oder fast nichts zu tun. Die Botschaft vertraute ihm die wenigen durchreisenden Franzosen zur

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