Der Staubozean
Niedergang geschah langsam; oftmals gab es Zeiten relativer Stabilität, in denen die Bürger einander anblickten und sahen, wie die Verzweiflung langsam dahinschmolz. Aber kaum kam es zu einer Erneuerung ihrer Zuversicht, da gab es neue Erschütterungen - ein dumpfer Verfall. Und dann betrog ihr Bräutigam die Braut des Meeres.
Zu meiner Zeit lebten die Venezianer im dritten und zweiten Stockwerk teilweise versunkener Gebäude. Die Bevölkerung war nicht einmal ein Zehntel derer in Venedigs Glanzzeit. Ich stamme aus einer uralten Adelsfamilie. An meine Kindheit erinnere ich mich sehr gut. Viel Zeit verbrachte ich damit, meine alte schwarze Pagode durch die versunkenen Straßen zu staken oder zu rudern. Ich erinnere mich an die versunkenen, zerstörten Pylonen, die mit Anemonengirlanden untergegangenen Statuen, an die Seeigel, die stachelbewehrt über die versunkenen Mosaikgesichter venezianischer Madonnen, die vom Sand getrübt wurden, krochen. Manchmal tauchte ich bei der Suche nach Schätzen in das kalte Wasser und kam schmutzig und von schleimigen Pflanzen verschmiert nach Hause, um dem milden, traurigen Tadel meiner Mutter entgegenzutreten …« An dieser Stelle brach meine Stimme für einen Augenblick. Meine Mutter war gestorben, als ich noch ein Kind war; gewiß tat es im Innern noch irgendwo weh. Und das war mein eigenes Leben, das waren meine eigenen Lügen, ein Surrogat meiner selbst, auf meine eigene Persönlichkeit verpflanzt. In dieser Nacht floß es über wie nie zuvor, obwohl ich dem Ganzen jenen marinierten, gekünstelten Erzählstil geben mußte, den die Terraner so mögen. Meine eigene Schöpfung, meine eigene Lüge, meine eigene Seele. Meine Kunst. Tränen traten in meine Augen.
»Es war eine beengende Kultur, über alle Lebendigkeit hinaus stilisiert, immer noch schön, wie der vollständig bewahrte Leichnam einer jungen Braut. Und ich war völlig allein. Oftmals verließ ich Partys oder einen Dichterwettstreit, um die Wasserstraßen in meiner schwarzen Pagode zu durchstreifen. Viele der venezianischen Gebäude waren verlassen, Theater, Herrschaftshäuser, Gasthäuser zerbröckelten in feuchtem Zerfall. Ich hatte nichts gegen einen leichten Schimmelüberzug, und oft stieg ich durch leere Fensterhöhlen und watete mit meiner Laterne über verschlammte Böden. Oft sammelte ich merkwürdige Muscheln …«
»Was?« unterbrach Dalusa.
»Muscheln. Die Hautskelette toter Wasserorganismen. Manchmal fand ich die muschelbewachsenen Überreste früherer Kulturen. Die Scherbe einer griechischen Amphore, eine blitzende Aluminiumkanne aus dem Industriezeitalter, irgendein verwaschenes Bruchstück einer verlorenen Erinnerung …«
»Warum bist du fortgegangen?«
»Ich wurde älter. Man redete von Heirat, von einer Verbindung mit einer alten Familie, die noch verbrauchter als die unsere war. Plötzlich wußte ich, daß ich eine weitere Woche in Venedig nicht aushalten könnte, nicht noch einen Tag dieser sanften Melancholie, nicht noch eine Stunde schierer Verzweiflung. Ich hätte in eine andere Stadt fliehen können. Paris, Portland, Angkor Wat …, aber ein Planet allein schien zu klein. Ich habe Venedig verlassen und seitdem nie mehr wiedergesehen. Und mir bedeutet es auch nichts mehr.«
Meine Stimme bebte. Das tat mir weh bis ins innerste Mark. Diese erfundene Geschichte war mir viel näher als meine tatsächliche Kindheit, diese elenden Jahre der Ablehnung und Verachtung, durch das unrechtmäßig erworbene Vermögen meines Vaters nur teilweise versüßt. Ich hatte versucht, meine rüpelhaften, stockdummen Kameraden zu vergessen, ebenso wie die Anstrengungen meines Vaters, mich in seine Form zu pressen, ebenso der Tranquilizer eröffnet. Dann die stimulierenden Drogen, zuerst die zugelassenen, dann eine ganze verbotene Galaxis vielfarbiger Pillen, Freude in Kapselform. Ich hatte versucht, den Schmerz zu vergessen, und zum Teil auch mit Erfolg. Aber ich hütete die Erinnerungen an diese Drogen wie einen Schatz. Ich wußte: Endlich hatte ich eine Laufbahn gefunden, die mir lag. Innerhalb weniger Jahre war ich ein Dealer, ein Mitglied einer seltsamen, aber einträglichen Subbranche der Pharmazie. Ich hatte es nie bereut. Später bin ich eingeschlafen.
Am nächsten Morgen waren die Matrosen ungewöhnlich redselig. Einer der größten, mit Namen Perkum, unterbrach sich mitten beim Kauen, um zu bemerken: »Wißt ihr was? Unser Käpt'n ist wirklich ein komischer Kerl.«
Die anderen nickten und wandten
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