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Der Staubozean

Titel: Der Staubozean Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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und Wahrheit ausgesprochen.
    »Und?« meinte ich.
    »Und er ist ungefähr in deiner Statur. Du hast ihn schon gesehen, der mit den grünen und weißen Zielscheiben auf den Wangen.«
    »Ah ja.«
    »Nun, warum sollen wir's nicht bei ihm ausprobieren?«
    Ich dachte darüber nach. »Du willst, daß ich Flackern in sein Essen praktiziere?«
    »Warum nicht?« erkundigte sich Calothrick. »Ich werde es tun, wenn du dich nicht … wenn du es nicht willst.«
    Das Flackern verlor allmählich seine Wirkung. »Genau, du wirst es machen«, sagte ich. Ich rieb mein linkes Auge, das mit dem gräulichen Fleck; es fing zu schmerzen an. Ich erhob mich von meinem Stuhl, nahm den Topf aus dem Ofen und stellte ihn wieder auf die Flamme. Ich stellte sie größer.
    »Drück ein paarmal auf die Pumpe, bitte, Dumonty«, sagte ich müde.
    »Monty«, korrigierte er, während er pumpte. »Sag mal, du hast ja 'ne Menge da drin. Das wird sie auf der Hochinsel ganz schön glücklich machen, hm?«
    »Ja, klar«, sagte ich. Aber meine ehemaligen Mitbewohner in der Piety Street hatten mich als Kanonenfutter benutzt, ihr Spielchen mit mir getrieben und mich zu ihrer Schachfigur gemacht. Ich war natürlich nicht auf Rache aus, das war unter meiner Würde. Nur auf simple Gerechtigkeit. Es würde in der Tat eine große Menge Syncophin da sein, selbst dann noch, wenn ich den Destillierprozeß beendet hätte. Aber sie würden nie etwas davon sehen. Das hatte ich schon entschieden.
    Calothrick wollte widersprechen. Aber mit ihm würde ich mich später beschäftigen.

5
    Die Lüge
     
    »E RZÄHLE MIR VON DER E RDE «, sagte Dalusa.
    »Gern.« Wie oft hatte ich die Lüge erzählt, und wie vielen Frauen? Ich konnte es nicht mehr zählen. Vor über zwanzig Jahren war die eingegebene Unwahrheit wie eine voll erblühte Rose in meinem Kopf aufgegangen, bewässert von panischer Angst, befruchtet von jugendlichem Romantizismus. Unzählige Male hatte ich mit Widerwillen gehandelt; unzählige Male hatten meine jugendlichen Brauen sich in geheucheltem Schmerz aus geheuchelten Erinnerungen zusammengezogen. Aber mit Dalusa war das anders, Dalusa verdiente etwas Besseres. Ich beschloß, für sie so gut zu lügen, wie noch niemals zuvor.
    »Ich kann dir nicht von dem ganzen Planeten erzählen«, sagte ich, meine Worte bedachtsam wählend, »nur von den wenigen Hektar da und dort, die das Schicksal mir zu sehen gewährte. Vor vierunddreißig Jahren wurde ich in Venedig geboren, einer alten Stadt, einst eine Nation. Sie war auf einer Insel gebaut, und man nannte sie die Braut des Meeres. Venedig wurde von einem Ausläufer des Weltozeans umschlungen, ein großes Salzmeer, genannt die Mitte der Welt. Als Kind schaute ich auf das Meer, sah, wie schaumgekrönte Wellen an das Gestade brandeten, bis meine Augen vom Glitzern der Sonne auf der unbeständigen Oberfläche des Wassers schmerzten. Es schien, daß der Ozean nie aufhörte und den Planeten wie eine zweite Lufthülle umgab. In den blauen, salzigen Meeren der Erde ist genug Wasser, um das Staubmeer mehr als dreißigmal zu versenken.
    Aber zurück zu Venedig. Stell' dir eine prächtige goldene Stadt vor, so alt, daß die Felsen unter ihr trügerisch werden. Eine Stadt, einst herrlich und stolz, glänzend und schön, im Besitz der über die Jahre angehäuften Beute der sieben Meere. Es gab keine Seestreitmacht, die der venezianischen glich, keine Herrscher, die Venedigs Dogen gleichkamen. Venedig war die Königin unter den Städten Italiens und Böhmens, wie ein großer Diamant unter Saphiren. Von den Städten der Erde war Venedig die erste, die die Sterne erreichte. Natürlich wurde Venedig gegründet, lange bevor der Mensch zu fliegen verstand, aber venezianisches Genie machte den lang gehegten Traum zur Wirklichkeit. Hölzerne Vögel, erdacht vom Gehirn des unsterblichen Leonardo da Venecia, schwebten durch den Himmel Venedigs und trugen die rot-silbernen Banner der Stadt …
    Aber das Land begann zu schwanken. Zuerst verschwendete man kaum einen Gedanken daran. Es gab viele, die Lösungen vorschlugen, und genug Reichtum, um sie zu verwirklichen. Ein Deich zum Meer? O nein, Venedig ist von Schlammbänken umgeben. Vielleicht ist die ganze Insel zum Schwimmen zu bringen? Aber die Natur antwortete auf jedwede solcher Bemühungen mit Feuer und Erdbeben. Der Felsen unter der Stadt war nicht stabil, sondern mit Höhlen durchsetzt, und winzige flüssige Feuer siedeten in ihm. Die Gefahr einer Flutkatastrophe war zu groß. Der

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