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Der Staubozean

Titel: Der Staubozean Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruce Sterling
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ich wieder zu Atem gekommen war, hatte die neue Anemone sich zwischen Großmast und Besanmast bequem niedergelassen und zeigte alle Anzeichen von Bereitschaft, ihren Aufenthalt zum Dauerzustand zu machen.
    Es handelte sich um ein voll ausgewachsenes Exemplar, wie ich aus meiner reichlich wackligen Position auf der unteren Brahmrahe bemerkte. Seine Tentakel waren gut acht Meter lang, der tonnenförmige Körper vielleicht einen Meter zwanzig hoch, ein wenig niemals eineinhalb Meter, wenn man die mächtige, fast farblose Rosette mitzählte. Die Anemone sah fett und glücklich aus und erinnerte irgendwie an einen wohlgenährten Nullaquaner. Sie hatte sieben Tentakel; der achte war offensichtlich bei einem Unfall in den Kinderjahren abgefressen worden.
    Mit schlaffen Bewegungen legte das Geschöpf drei seiner Tentakel über die Rahen der Marssegel und die Hauptbrassen, so wie Weinranken sich um die Drähte eines Spaliers winden. Die inneren und äußeren Verspannungen der Rahe unter meinen Füßen summten unter der Anspannung. Ich verließ sie auf der Stelle und machte mich zum Krähennest auf.
    Ein umhertastendes Tentakel fand den Großmast und zerrte an ihm. Das ganze Ding rüttelte; ich klammerte mich mit verkrampften Fingern an die Webeleine.
    Einen Moment lang hatte ich die Vorstellung, die Anemone sei gekommen, um ihren gefangenen Nachkommen zu befreien. Aber dieser Gedanke wurde einige Sekunden später weggewischt, als die Anemone den Glasbottich mit der nachlässigen Bewegung eines Arms vom Tisch warf. Krachend und klirrend schlug er auf dem Deck auf.
    Das schwere Eisengitter hatte zwei Tentakel der jungen Anemone zerquetscht, und in ihrem röhrenförmigen Körper steckte eine Glasscherbe. Mit verkrüppelter Schwerfälligkeit zog sie sich übers Deck.
    Irgendwie spürte die große Anemone Bewegung. Mit unbeirrbarer Genauigkeit hob sie ihren jungen Verwandten vom Deck hoch und kostete ihn mit einem sauberen Stich direkt über dem Saugfuß. Sie fand Kannibalismus wohl nicht sonderlich reizvoll und ließ ihr Opfer mit völliger Interesselosigkeit auf das Deck fallen. Schwer, vielleicht tödlich verletzt, kroch die junge Anemone mühsam zur Reling, eine Bahn gelblicher Flüssigkeit absondernd. Sie fiel über Bord und versank ohne jede Spur.
    Die Situation war kritisch. Einer der langen dornigen Tentakel der Anemone lag genau auf der Kombüsenluke. Ein zweiter befand sich ganz nah bei der Ruderpinne. Es würde schwierig werden, den Kurs zu wechseln. Und was das Schlimmste war, in etwa einer Stunde würden wir auf ein tückisch aussehendes schroffes Vorgebirge krachen, das genau vor unserem Bug lag. Wir mußten auf einen anderen Kurs gehen.
    Jetzt schwang die Luke zur Kapitänskajüte auf, und ein halbes Dutzend Besatzungsmitglieder kamen herauf, um Desperandum Beistand zu leisten. Einer von ihnen war Flack, der erste Maat. Er und Desperandum berieten sich hastig. Desperandum schüttelte den Kopf. Seine Ablehnung war offensichtlich. Er hatte die Verletzung seines Ex-Gefangenen gesehen, möglicherweise war das ledrige Ungeheuer das letzte seiner Art. Ihm sollte kein Schaden zugefügt werden.
    Die Anemone war jetzt ganz ruhig. Drei Tentakel waren um die Brassen geklammert, vier erstreckten sich steif übers Deck. Wenn sie sich ganz streckte, könnte sie vielleicht die Luke zur Kapitänskajüte erreichen, aber anscheinend war sie eingeschlafen. Das Fehlen der tragenden Staubschicht schien sie nicht zu stören. Ich blickte nach Norden. Eine dünne Staubwolke markierte den Weg der Staubläufer, die immer noch auf dem Rückzug waren. Dahinter enthüllte das helle Sonnenlicht eine durch die Entfernung geschrumpfte Gestalt, die auf uns zuflog. Dalusa.
    Ich fühlte mich sehr unbehaglich in der Takelage und beschloß, sehr, sehr vorsichtig hinabzuklettern, solange die Anemone noch ruhig war.
    Inzwischen hatte der größte Teil der Besatzung sich um Desperandum geschart. Er diskutierte mit seinen Maaten immer noch die anzuwendende Taktik. Die Crew stand erstaunt dabei. Drei Matrosen umklammerten nervös ihren Walspaten, Blackburn hielt eine seiner Harpunen. Ich begann, behutsam die Webeleine hinabzuklettern. Die Anemone verriet durch kein Anzeichen, daß sie mich bemerkte.
    Ich hatte fast eine Höhe erreicht, von der aus ich mich auf das Deck fallen lassen konnte, als Desperandum mich sah.
    »Newhouse!« schrie er. Sein Schrei alarmierte uns beide, aber die Anemone reagierte schneller. Ein Tentakel schwang wie der Ausleger eines

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