Der Stein der Könige 1 - Quell der Finsternis
Er kam ungelenk auf die Beine und ging zu der kleinen Tür, entriegelte sie, öffnete sie.
Der Ehrenwerteste Hohe Magus stand draußen, der Einzige, der es gewagt hatte, den König bei seinen Gebeten zu unterbrechen. Ein Blick auf das bleiche, abgehärmte Gesicht des Mannes, und Helmos wusste, dass seine Gebete nicht erhört worden waren.
»Verzeiht mir, Euer Majestät … «
»Ja, was ist, Hoher Magus?«, fragte Helmos und ließ sich nicht anmerken, wie verzweifelt er war.
»Der Fluss… der Fluss ist verschwunden!« Das weiße Haar des Mannes schien sich vor Entsetzen zu sträuben.
»Verschwunden?« Helmos starrte ihn an. »Redet doch keinen Unsinn! Was meint Ihr mit ›verschwunden‹?«
»Genau das!« Reinholt leckte sich die trockenen Lippen. »Irgendein schrecklicher Zauber, zweifellos Magie der Leere, hat den Fluss trocken gesaugt. Das Wasser ist weg! Es fließt nicht mehr in die Stadt. Überall brechen Feuer aus. Diese Belagerungstürme, über die wir gelacht haben…« Er rang die Hände. »Nun lacht niemand mehr. Die Pumpen spucken eine dämonische Substanz aus – schwarzes Feuer. Es klatscht wie Gelee auf uns nieder und geht in Flammen auf, wenn es aufprallt! Menschen werden zu lebenden Fackeln, in der ganzen Stadt brennen Häuser, und nun haben wir kein Wasser mehr, um die Brände zu löschen.«
Helmos verstand das einfach nicht. Sein Geist geriet ins Taumeln, klammerte sich an die Worte des Hohen Magus, fragte nur noch: »Warum? Warum? Warum?«
»Und es gibt noch schlimmere Nachrichten, Euer Majestät! Anstelle des Hammerklauenflusses fließt Finsternis. Eine riesige Armee marschiert durch das leere Flussbett, eine Armee, die von Eurem Bruder Prinz Dagnarus angeführt wird. Nichts kann sie mehr davon abhalten, in die Stadt einzudringen.«
Reinholt holte tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen. »Euer Majestät, Ihr müsst den Stein der Könige nehmen und aus der Stadt fliehen, solange noch Zeit ist. Ganz gleich, ob Vinnengael fällt – es wird niemals wirklich fallen, solange der Stein der Könige entkommt.«
»Ich werde nicht gehen.«
»Euer Majestät…«
»Der Stein der Könige ist unsere einzige Chance. Wenn nicht für uns, so für diejenigen, die nach uns kommen. Er muss hier im Portal der Götter bleiben.« Helmos schloss die Hand so fest um den Stein, dass ihm die scharfen Kanten in die Haut drangen. Er spürte das Brennen, spürte sein warmes, klebriges Blut, und konzentrierte sich darauf, nicht die Hand zu öffnen, damit der Hohe Magus es nicht sah. Dann musste Helmos an seine Frau denken, an Anna, die im Palast gefangen saß, an Dagnarus' Truppen, die ins Schloss eindrangen…
»Die Königin!«, sagte er, und sein Herz verriet ihn. »Ich muss zu ihr.«
»Beruhigt Euch, Euer Majestät«, erwiderte der Hohe Magus. »Ich habe schon Kriegsmagier ausgeschickt, um sie zu schützen. Ich denke, sie ist weit von Euch entfernt sicherer als in Eurer Nähe. Dagnarus wird nach Euch suchen, Helmos. Noch einmal beschwöre ich Euch, den Stein der Könige zu nehmen und zu fliehen. Nicht um Euret-, sondern um unser aller willen.«
»Und dann wird man mich einen Feigling nennen.« Helmos war zornig. »Der König, der beim ersten Anzeichen von Ärger aus seinem Reich floh! Mein Volk würde alle Hochachtung vor mir verlieren. Unsere Verbündeten würden sich an unserer Schwäche freuen und versuchen, so viel wie möglich von unserem Land an sich zu reißen, sobald mein Bruder mit uns fertig ist. Wenn ich jemals zurückkehren und meinen Thron wieder beanspruchen würde, wie könnte ich dann auch nur von einem Bettler auf der Straße erwarten, dass er mir Respekt erweist? Nein, Hoher Magus«, schloss er. »Es ist unmöglich.«
Der Hohe Magus seufzte tief. »Ich verstehe, Euer Majestät. Ihr habt Recht. Es ist ein schreckliches Dilemma, und dazu eines, das nur Ihr selbst lösen könnt. Wir werden Euch selbstverständlich in Eurer Entscheidung unterstützen.«
»Ich werde tun, was mein Vater von mir erwartet hätte«, sagte Helmos schlicht. »Ich werde hier im Portal der Götter bleiben, wo er den Stein der Könige erhalten hat. Ich werde hier bleiben und auf die Götter vertrauen.«
»Mögen sie Eure Gebete erhören, Euer Majestät«, sagte der Hohe Magus, ging rückwärts zur Tür hinaus und schloss sie dann leise hinter sich.
Helmos setzte sich aufs Bett. Er wischte sich das Blut an seinen Händen an dem Kissen ab, das noch feucht von seinen Tränen war.
Der erste Satz, den Dagnarus sprach,
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