Der Stein der Könige 2 - Der junge Ritter
Luft zu bekommen, war noch nicht vollkommen vergangen. Es fiel ihm schwer zu atmen, als läge ein Gewicht auf seiner Brust.
Die Luft war verseucht und roch entsetzlich. Gustav erkannte den Gestank sofort. Er war einmal drei Tage nach einer Schlacht an einem Schlachtfeld vorbeigekommen. Die Leichen der unbegrabenen Krieger hatten aufgebläht und verwesend in der heißen Sonne gelegen. Selbst die abgehärtetsten Veteranen der Armee von Vinnengael hatten sich bei dem widerlichen Gestank übergeben müssen.
Die Silberglöckchen klingelten. Das Klingeln war blechern und misstönend. Gustav hörte, wie sich vorsichtige Schritte näherten. Sein Pferd schrie plötzlich auf, ein Schrei des Entsetzens, wie er ihn noch nie von diesem gut ausgebildeten Tier gehört hatte, und dann ertönte ein Krachen und das Dröhnen von Hufen. Sein Schlachtross, das nicht gezuckt hatte, als es hundert Speerspitzen gegenüberstand, hatte sich losgerissen und floh.
Er konnte es dem Tier nachfühlen. Er selbst hatte hundert Speerspitzen gegenübergestanden und keine vergleichbare Angst empfunden wie die, die ihn nun überfiel. Etwas Böses war da draußen. Etwas teuflisch Böses, Uraltes, das schon vor der Erschaffung der Welt bestanden hatte. Gustav war genügend auf Magie aller Art eingestimmt, dass er die stinkende Magie der Leere sofort erkannte.
Wer immer dieser Magier dort draußen war, er gab sich nicht mit Kleinigkeiten ab. Er war ein mächtiger Zauberer und verfügte über eine Macht, wie Gustav sie noch nie erlebt hatte. Eine Macht, von der er nicht wusste, ob er ihr etwas entgegensetzen konnte.
Die Schritte kamen näher. Der Gestank der Leere wurde intensiver und bewirkte, dass sich Gustav beinahe der Magen umgedreht hätte. Diese stinkende Luft in die Lunge zu bekommen war, als versuchte man, ölbedecktes Wasser einzuatmen.
Eine Hand berührte sein Zelt. Wieder klingelten die Glöckchen, aber Gustav konnte es kaum hören, so laut rauschte das Blut in seinen Ohren. Er hatte Schweißperlen auf der Stirn. Sein Mund war trocken, die Handflächen feucht. Es gab zwei Möglichkeiten. Er konnte aufstehen, sich in seine magische Rüstung hüllen und dem Zauberer draußen entgegentreten, oder er konnte hier liegen bleiben und darauf warten, dass der Feind zu ihm kam.
Gustav beschloss grimmig, sich nicht zu rühren. Er wollte diesen Zauberer der Leere sehen, der so viel Zeit damit verbracht hatte, ihm zu folgen. Er wollte wissen, warum er hier war. Er schloss die Augen, und es bedurfte einer gewaltigen Willensanstrengung, sie geschlossen zu lassen. Endlich gelang es ihm, und er versuchte, so gut wie möglich seine stoßweisen Atemzüge zu beruhigen.
Er hörte ein Reißen – der Eindringling hatte die Rückwand des Zeltes zerfetzt. Die Silberglöckchen klingelten wild. Gustav nahm an, es wäre nun an der Zeit, aufzuwachen, und er schnaubte und grunzte, setzte sich halb auf und rieb sich die Augen.
Der Eindringling kam auf allen vieren ins Zelt gekrochen. Gustav konnte nicht genau erkennen, um was für ein Wesen es sich handelte.
»Wer ist da?«, rief er mit verstellt verschlafener Stimme und kratzte gleichzeitig mit dem Daumennagel seiner rechten Hand über die Spitze des Schwefelholzes.
Eine Flamme flackerte auf. Gustav hielt das brennende Holz hoch. Das Gesicht einer Frau. Ein Gesicht von verblüffender, atemberaubender Schönheit. Blaue Augen, groß und schimmernd, üppige rote Lippen, Haar von der Farbe von Weizen im Spätsommer. Sie trug ein Kleid aus grünem Samt, das Mieder tief ausgeschnitten. Sie hockte auf allen vieren. Ihre weißen Brüste sackten nach vorn, schwer, reif und verführerisch.
»Ich bin einsam«, sagte sie leise. »Ich will heute Nacht nicht allein sein.«
Dieses erdrückende Gefühl, der Gestank nach verwesendem Fleisch!
Gustav starrte die Frau an, und die Illusion zerbrach, zerfiel, zerbarst wie ein Eisblock, auf den man mit einem Hammer schlägt.
Schönheit wich dem Entsetzlichen. Das wunderschöne Gesicht löste sich in die Fratze einer uralten Leiche auf, einen Schädel mit ein paar Fetzen verwesender Haut, die immer noch daran klebte. In den Augenhöhlen gab es keine Augen mehr, aber das Blitzen einer böswilligen, tückischen Intelligenz. Kein Mitleid, keine Gnade, kein Hass, keine Gier, keine Lust. Gustav sah in die Augen der Leere.
Die Leere. Wie sie gewesen war, bevor die Götter kamen und die Welt geschaffen wurde. Wie sie sein würde, wenn die Götter davongingen und die Welt jäh ein Ende
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