Der Stein der Könige 2 - Der junge Ritter
fühlte sich gleich besser. »Tatsächlich? Was willst du damit machen?«
»Ich habe letzte Nacht darüber nachgedacht. Ich werde es zu dem Tempel bringen, von dem unsere Freunde uns erzählt haben.«
»Das ist eine gute Idee, Jessan«, meinte Bashae und fügte dann aber etwas zögernder hinzu: »Die Trevinici sagten allerdings, dass nur Nimoreaner in den Tempel gelassen werden – «
»Die Götter haben mich auserwählt«, sagte Jessan. »Also sollen sie sich darum kümmern. Ich werde meine Seele wagen.«
Bashae kannte seinen Freund gut genug, um nicht zu widersprechen. Sobald ein Trevinici »seine Seele wagt«, wird er tun, was er sagt, oder dabei sterben.
»Weißt du denn, wo du den Tempel findest? All diese Straßen – « Bashae zuckte hilflos die Schultern.
»Scharfes Schwert hat mir gestern von einer Straße namens Königinnenallee erzählt, die sich mitten durch Mynamin zieht. Die Straße führt vom Hafen im Süden zum Tempel im Norden und an den Kasernen vorbei. Er hat es mir für den Fall erzählt, dass ich später zu ihnen kommen möchte. Diese Straße liegt nur sechs Straßen westlich der Drachenbauerstraße. Wir müssen sie nur finden und ihr nach Norden zum Tempel folgen.«
»Wird sich Arim keine Sorgen machen, wenn er zurückkommt und wir weg sind?«
»Die Großmutter bleibt doch hier«, meinte Jessan. »Er weiß, dass wir nicht einfach davongehen und sie hier lassen würden.«
Bashae dachte darüber nach und kam zu der Ansicht, dass das ganz vernünftig klang. Er bückte sich und hob den Stock mit den Augen hoch. Jessan setzte dazu an, in den Kohleneimer zu greifen und das Messer herauszuholen. Aber dann hielt er noch einmal inne, richtete sich auf und starrte den Stock an.
»Tu ihn weg«, befahl er.
»Aber Jessan – «
»Ich mag es nicht, wenn er mich beobachtet.«
Bashae verbiss sich ein Lächeln und brachte den Stock ins hintere Zimmer, wo die Großmutter noch schlief. Er legte den Stock neben ihre Hand. Sie murmelte etwas vor sich hin, streckte die Hand aus, legte sie auf den Stock und lächelte im Schlaf.
»So«, erklärte Bashae, als er zurück ins Wohnzimmer kam. »Jetzt kann er dich nicht mehr sehen.«
Jessan griff in den Kohleneimer und packte nach einem weiteren Augenblick des Zögerns das Messer. Er verzog das Gesicht und steckte das Messer rasch in einen Lederbeutel, den er sonst für seine Feuersteine benutzte. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, und er war bleich geworden.
»Gehen wir«, sagte er.
Sie waren so bemüht, den richtigen Weg zu finden, dass sich keiner von ihnen umdrehte.
Die Nimoreaner sind ein frommes Volk und befragen die Götter regelmäßig, bevor sie etwas unternehmen, das schwer wiegendere Auswirkungen auf ihr Leben haben könnte. Sie glauben, dass die Götter eine aktive Rolle in allen Aspekten des Lebens spielen, von Familienangelegenheiten bis hin zum Geschäftlichen. Die Königin von Nimorea ist gleichzeitig ein politisches und spirituelles Oberhaupt.
Der Tempel von Mynamin befand sich im Nordteil der Stadt und war eines der ältesten Gebäude. Er war errichtet worden, als die Nimoreaner vor etwa dreihundert Jahren hierher ins Exil gegangen waren.
Die Straße, der Jessan und Bashae folgten, endete an der Stadtmauer. Hinter einem Tor in der Mauer befand sich ein Kiefernwald. Sie wollten gerade in den Wald hinein gehen, als Bashae stehen blieb.
»Was ist los?«, wollte Jessan wissen.
»Dieser Wald ist alt«, erklärte Bashae voller Ehrfurcht, »alt und magisch. Spürst du es denn nicht? Es lässt meine Fingerspitzen kribbeln.«
»Er ist zumindest ziemlich dunkel«, befand Jessan und blickte unbehaglich zu den Bäumen auf. »Ist er zornig?«
Bashae überlegte. »Nein, im Augenblick nicht. Aber ich denke schon, dass er es sein könnte, wenn er wollte.«
Jessan seufzte. »Wir sind so weit gekommen…« Mit finsterer Miene ging er weiter in den Wald hinein. Bashae folgte ihm und verrenkte sich beinahe den Hals bei dem Versuch, auch noch die Wipfel der höchsten Kiefern zu sehen.
Überall auf dem Weg wurden sie von Leuten, denen sie begegneten, neugierig angestarrt, und einige blieben sogar unwillkürlich stehen. Die Nimoreaner sind allerdings ein höfliches Volk, und so sprach niemand sie an.
Die beiden gingen unter den Kiefern hindurch. Jessan lief stets ein Stück voraus und winkte Bashae immer wieder ungeduldig zu, wenn dieser in den tiefen Schatten hin und her ging, den Geruch einatmete und mit der Hand durch Kiefernnadeln fuhr.
Als
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