Der Stein der Könige 2 - Der junge Ritter
sie aus dem Wald traten, bot sich ihnen eine faszinierende Aussicht – ein Anblick, den wenige außer Nimoreanern je gesehen hatten. Felder mit grünem Gras, so weich und glatt wie die Seide dieses Landes, umgaben eine riesige Schlucht, die mit Magie und der Arbeit liebevoller Hände geschaffen worden war. Das Tempelgebäude, das sich vollkommen unter der Erdoberfläche befindet, ist eine halbe Meile breit und eine halbe Meile lang. Das oberste Sims der Tempelmauer besteht aus Granit, in den Tiergestalten gemeißelt wurden. Es heißt, jede Tierart, die in Loerem existiert, ist hier dargestellt, alle überlebensgroß und so realistisch, dass es einem vorkommt, als würde der Löwe gleich angreifen oder das Rehkitz auf staksigen Beinen davonspringen.
Unter dem Sims mit den Säugetieren befindet sich eines mit Vögeln und anderen geflügelten Geschöpfen, und darunter sind Fische und andere Meerestiere zu sehen. Und die Zwischenräume zwischen den Tieren werden von Land- und Wasserpflanzen eingenommen.
In jeder Himmelsrichtung ist ein Drache dargestellt, einer für jedes Element: Erde, Luft, Feuer und Wasser. Die Steindrachen bewachen die Treppe, die hinab in den Tempel führt.
Die Nimoreaner, die den Tempel bewachten, hatte man wegen ihrer Größe und Kraft und ihrem Kampfesmut ausgewählt. Jeder von ihnen maß über sechseinhalb Fuß und wies muskelbepackte Arme und eine breite Brust auf. Sie trugen gewaltige Helme, geschmückt mit schwarzen Federn, die sie noch größer wirken ließen. Jeder hatte eine schimmernde Bronzerüstung von altmodischem Zuschnitt, die aber neu hergestellt worden war. Jeder trug einen bemalten Schild, der ebenso groß war wie der Mann selbst, und einen gewaltigen, mit Federn verzierten Speer. Sie hielten die Speere gegeneinander, Spitze an Spitze, und bildeten auf diese Weise einen Durchgang, durch den jede Person gehen musste, die in den Tempel hinein wollte. Die Wachen sprachen mit niemandem, der sich der Treppe näherte, betrachteten aber alle aufmerksam mit blitzenden Augen.
Die Wachen hatten Jessan und Bashae in dem Moment bemerkt, als sie aus dem Wald kamen. Immer wieder schauten die Männer zu ihnen herüber und ließen sie nie aus den Augen.
Selbst wenn die Götter hier nicht wohnten, waren sie zumindest häufig zu Gast, dessen war sich Jessan gewiss. Er wurde langsamer. Seine schreckliche Last drückte ihn nieder, so dass es ihm vorkam, als trüge er Eisenschuhe.
Bashae, der sonst so ängstlich, ja feige war, fühlte sich hier unbeschwert. Nun war er derjenige, der vorausging und nur stehen blieb, wenn er bemerkte, dass sein Freund ihm nicht mehr folgte. Bashae betrachtete Jessan mitleidig und besorgt.
»Was ist los?«
»Sie wissen es«, war alles, was Jessan hervorbringen konnte. »Sie wissen es.«
»Soll ich vorgehen?«, fragte Bashae.
Jessan konnte nicht antworten, aber er nickte. Bashae ging auf die Wachen zu, aber als er näher kam, ließ auch sein Selbstvertrauen nach. Er hatte noch nie so große Männer gesehen, er hatte nicht einmal gewusst, dass Menschen so groß werden konnten. Er spähte hinauf in die strengen Gesichter, um ihnen irgendetwas anzusehen, aber obwohl sie ihn beobachteten, verrieten ihre Mienen nichts. Bashae, der wusste, dass Jessan sich auf ihn verließ, schluckte, packte seinen Rucksack fester und ging weiter. Er ging unter den Speeren hindurch. Keiner der Männer sagte ein Wort. Dann drehte Bashae sich um, grinste Jessan an und winkte ihm zu.
Mit grimmiger Miene, die Zähne so fest zusammengebissen, dass sein Kinn zitterte, machte Jessan einen Schritt vorwärts. Mit einer raschen, plötzlichen Bewegung kreuzten die Wachen ihre Speere und verstellten ihm den Weg.
»Lasst ihn durch«, sagte eine Stimme.
Jessan drehte sich um. Er hatte sich so auf die Wachen konzentriert, dass ihm die plötzliche Stille hinter ihm nicht aufgefallen war. Er sah, wie die Nimoreaner auf ein Knie sanken, eine Hand auf dem Boden, die andere Hand aufs Herz gelegt.
Eine nimoreanische Frau stand vor ihm. Sie trug ein weißes Seidengewand, das mit Gold durchwirkt war, eine goldene Schärpe mit Smaragden, goldene Armbänder, die sich warm schimmernd von ihrer schwarzen Haut abhoben, goldene Ohrringe und ein goldenes Band um die Stirn. Ihr Haar war kurz geschnitten, ihre Augen groß, weit auseinander stehend und schimmernd.
Jessan hatte noch nie so viel Schönheit gesehen, und sein erster Gedanke war, dass sie eine Göttin sein müsse. Dieser Gedanke wurde von der
Weitere Kostenlose Bücher