Der Stein der Könige 2 - Der junge Ritter
sondern trabten so zufrieden weiter, als befänden sie sich auf einer Weide.
Ranessa mochte es trotzdem nicht. Die grauen Wände bedrängten sie. Die Decke schien auf sie hinabzusinken. Sie fühlte sich eingezwängt. Die anderen Portale waren kurz gewesen; Ranessa hatte zu beiden Seiten das Tageslicht sehen können, und das hatte ihr geholfen. Aber in diesem verlor sie das Tageslicht hinter sich aus den Augen, und vor sich sah sie nichts als Grau.
Es gab nicht genug Luft zum Atmen, und sie begann zu keuchen und zu hecheln. Schweiß trat ihr auf die Stirn und lief ihr über den Hals. Ihr Magen zog sich zusammen, und sie befürchtete, sich übergeben zu müssen. Sie musste unbedingt diesen schrecklichen Ort verlassen, oder er würde über ihr zusammenbrechen und sie ersticken.
Ranessa begann zu laufen. Wolfram rief ihr etwas hinterher – etwas darüber, dass sie am anderen Ende vorsichtig sein sollte, denn man wusste nie, was sich dort befinden mochte –, aber sie ignorierte ihn. Sie hätte sich mit Freuden sogar diesem Wesen in der schwarzen Rüstung gestellt, wenn das bedeutete, nicht auch nur eine weitere Sekunde im Portal verweilen zu müssen.
Ranessa verließ das Portal am anderen Ende und stürzte in die Dunkelheit hinaus. Es war Nachmittag gewesen, als sie hineingegangen waren, und jetzt war es Nacht. Sie blickte auf und sah die gewaltige Himmelskuppel über sich, unzählige strahlend helle Sterne. Die kühle Luft des Spätsommers linderte ihr Fieber, und sie atmete schwer. Aus einem seltsamen Grund hatte Ranessa das Bedürfnis zu fliegen, sich in diesen Sternenhimmel zu erheben und sich vom Wind über die Bäume hinwegtragen zu lassen. So unwiderstehlich war dieser Impuls, dass sie sich mit ihrer ganzen Seele danach sehnte. Zu begreifen, dass das unmöglich war, traf sie bis ins Herz. Verzweifelt setzte sie sich hin und weinte, weil dieses hoffnungslose Sehnen so wehtat.
Als Wolfram endlich mit den Pferden das Portal verließ, sah er sich um und konnte sie nicht entdecken.
»Wo ist dieses dumme Mädchen jetzt?«, fragte er laut.
Die Pferde wussten es nicht, und es war ihnen auch gleichgültig. Sie waren müde, sie wollten etwas zu essen, Wasser und gestriegelt werden. Wolfram fluchte leise vor sich hin und führte sie zu einem Bach. Eines der Pferde scheute und sprang geschickt über etwas, das am Boden lag.
Als Wolfram genauer hinschaute, entdeckte er Ranessa. Sie hatte sich unter einem großen Baum zusammengerollt, fast versteckt im Schatten der Nacht.
Wolframs Herz zog sich vor Angst zusammen. Er ließ die Pferde los und beugte sich rasch über die am Boden Liegende. Er seufzte tief, als er spürte, dass ihr Herz kräftig und sicher unter seinen Fingern schlug. Sie war nicht tot. Sie schlief. Als er ihr sanft das Haar aus dem Gesicht strich, konnte er das Sternenlicht auf den Tränenspuren glitzern sehen, die sich immer noch über ihr Gesicht zogen.
»Mädchen, Mädchen«, sagte er leise. »Du bist wirklich eine Bürde! Aber der Wolf soll mich holen, wenn ich dich nicht trotzdem gern habe. Ich weiß nicht warum.«
Wolfram setzte sich neben sie und strich ihr das zerzauste Haar aus dem Gesicht. »Ich habe noch nie jemanden gemocht. Warum auch? Niemand hat sich je für mich interessiert. Und dann greift mich dieses schwarze Ungeheuer an und du versuchst, mich zu retten. Was für ein Anblick das war, Mädchen! Wie du dein Schwert geschwungen hast. Wie du gelaufen bist, um den alten Wolfram zu retten. Als ob ich das wert wäre.«
Der Zwerg seufzte und schüttelte den Kopf. »Was die Mönche mit dir anfangen sollen oder du mit ihnen, kann ich nicht begreifen, aber wir werden es wohl bald herausfinden, denn wir haben fast das Ende unserer Reise erreicht.« Er fütterte und tränkte die Pferde und striegelte sie. Dann aß und trank er selbst etwas und hielt die ganze Zeit Wache über Ranessa, die immer weiter schlief. Er richtete kein Lagerfeuer her, denn er wollte nicht, dass sie entdeckt würden. Er saß die ganze Nacht da, hielt Wache und wartete auf die Morgendämmerung.
Als Ranessa erwachte, wusste sie zunächst nicht mehr, wo sie war. Sie sah sich erstaunt um. Der Himmel war hell. Die Baumwipfel lagen schon im Morgenlicht, die Stämme noch im Schatten. Verwirrt setzte sie sich hin, und dann hörte sie ganz in der Nähe ein knurrendes Geräusch. Wolfram war schließlich doch eingeschlafen, im Sitzen. Er lehnte gegen einen Baumstamm und schnarchte laut vor sich hin.
Ranessa verzog das Gesicht.
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