Der Stein der Wikinger
Häuptlinge gestorben? War einer der mächtigen Priester tot? Hatte eine Krankheit in den Häusern gewütet? Hatte man sie geraubt, um sie … Sie wagte den Gedanken nicht zu Ende zu führen, denn wenn ihr Verdacht stimmte, würde sie nicht mehr lange am Leben sein. Sie drehte sich um und erkannte, dass auch das Lächeln des Anführers verschwunden war und sich tiefe Schatten der Trauer über sein Gesicht gelegt hatten.
Man brachte sie in eine leer stehende Hütte und deutete ihr durch eine Handbewegung, sich auf die Felle neben der Feuerstelle zu setzen. Der Anführer sagte etwas in seiner Sprache und verschwand. Obwohl innerhalb des Erdwalls nicht die geringste Gefahr bestand, dass sie davonlaufen könnte, blieben zwei bewaffnete Krieger vor der offenen Tür stehen. Sie nahmen eine feierliche Haltung an, als der Anführer zu ihnen sprach, und antworteten knapp. Sie entspannten sich erst, als der Häuptling gegangen war.
Ayasha ließ sich mit dem Rücken gegen die Hüttenwand sinken und schloss die Augen. Die Ungewissheit über ihr bevorstehendes Schicksal machte ihr zu schaffen. Wenn Kitche Manitu es gut mit ihr meinte, würde man sie einem Mann zur Frau geben, obwohl auch dieser Gedanke unerträglich war. Denn wie sollte sie mit einem Mann glücklich werden, solange das Bild des lächelnden Fremden mit den gelben Haaren in ihren Gedanken war? Es gab ihn, diesen Mann. Eines Tages würde er kommen und sie in seinen Wigwam holen. Doch würde er rechtzeitig eintreffen? Würde es ihm gelingen, sie aus dieser riesigen Stadt zu holen?
Eine junge Frau trat ein und brachte ihr eine Schüssel mit Eintopf und kühles Wasser in einem Krug. Ihre Augen waren gerötet, anscheinend hatte sie geweint. Sie übersah den fragenden Blick der Gefangenen und sagte etwas in ihrer Sprache, vermied es, Ayasha in die Augen zu sehen, als sie ihr das Essen reichte.
»Was ist passiert? Was habt ihr mit mir vor?«, fragte Ayasha.
Die Frau verstand kein Wort und schüttelte nur den Kopf. Ayasha glaubte eine Spur von Mitleid in ihren Augen zu erkennen, aber das konnte auch Einbildung sein. Mit Tränen in den Augen verließ die junge Frau die Hütte.
Ayasha hatte keinen großen Hunger und musste sich überwinden, den Eintopf zu essen. Er bestand aus einem Gemüse, das sie nicht kannte, und gekochtem Wild. Sie kaute lustlos auf den Fleischstücken und spülte sie mit Wasser hinunter, stellte die Schüssel schon nach wenigen Löffeln zur Seite und versank wieder in ihren trüben Gedanken. »Kitche Manitu«, betete sie leise, »nur du weißt, warum mich diese Fremden gefangen halten. Gib mir die Kraft, die Ungewissheit zu ertragen, und verleih mir die Stärke, das Schicksal anzunehmen, das du für mich bereithältst. Schicke den Mann mit den gelben Haaren zu mir und zeige uns einen Weg, den wir gemeinsam gehen können.«
Drei Tage und drei Nächte hielt man sie in der Hütte fest. Nur morgens und abends ließ man sie für kurze Zeit nach draußen, damit sie sich erleichtern konnte, streng beaufsichtigt von zwei kräftigen Frauen. Beide waren mit Kriegsäxten bewaffnet. Auf dem Tempelplatz waren die Vorbereitungen für eine feierliche Zeremonie im Gange, man schmückte die Wohnhäuser und säuberte die Wege, die Tempelhäuser auf den Pyramiden waren mit langen Ketten aus bunten Perlen und gefärbten Truthahnfedern geschmückt. Von der höchsten Pyramide schallte eintöniger Klagegesang.
Jetzt bestand kein Zweifel mehr, einer der höchsten Würdenträger der Stadt war gestorben und sollte feierlich beerdigt werden. Und als Ayasha durch die offene Tür beobachtete, wie zwei junge Krieger an ihrer Hütte vorbeigingen und einer mit der ausgestreckten Hand quer über seinen Hals fuhr, wusste sie, was mit ihr geschehen würde: Man würde sie dem Gott dieser Fremden opfern!
Der Geschichtenerzähler hatte von den Opfern berichtet, die man in den Städten des Südens den Göttern darbrachte. Von Tieren und Tabak und ganzen Häusern voller Vorräte war die Rede gewesen, doch beim Tod eines Priesters oder bedeutenden Kriegers würde man auch Menschen töten, damit der Tote auf dem Weg ins Jenseits nicht allein war. Eine Sklavin oder eine Gefangene, die man in den Wäldern des Nordens raubte oder im Austausch gegen wertvolle Güter bekam und bis zu ihrem Tod wie eine Häuptlingstochter behandelte. Die Geopferte musste dem toten Würdenträger ebenbürtig sein.
Als Ayasha sich am Abend des vierten Tages über einer Grube erleichterte, beobachtete sie,
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