Der Stein der Wikinger
wie schwere Wolken über der Stadt aufzogen und dunkle Schatten auf den Tempelplatz warfen. Selbst die beiden Frauen, die sie bewachten, warfen nervöse Blicke zum Himmel. In weiter Ferne erklang rollender Donner, ein Zeichen von Kitche Manitu, dass der Augenblick der Entscheidung gekommen war. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern, bis man sie ihrem endgültigen Schicksal zuführte. Über dem Tempelplatz lag eine erwartungsvolle, aber auch gedrückte Stimmung, die selbst einen kleinen schwarzen Hund ergriffen hatte, der jaulend hinter einem Haus verschwand.
Sie kehrte in die Hütte zurück und betete mit erhobenen Händen zu Kitche Manitu. Sie wollte ihr Schicksal nicht willenlos hinnehmen. Mit Händen und Füßen würde sie sich wehren, wenn man sie zur Opferbank führte, und wenn es nur die geringste Chance zur Flucht gab, würde sie diese nützen. Lieber starb sie bei dem Versuch, ihre Freiheit zu erlangen, als wehrlos wie ein Fisch, den man an Land gezogen hatte. Sie war eine mutige Frau der Waldleute, und man sollte noch in vielen Wintern über ihre Tapferkeit sprechen.
Die junge Frau kehrte zurück und reichte ihr ein Kleid aus feinstem weißem Wildleder. Mit einer Geste befahl sie ihr, es anzuziehen.Ayasha blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen. Das heiße Getränk, das die Fremde ihr in einem Tonbecher reichte, lehnte sie jedoch ab. Der strenge Duft, der ihr aus dem Becher in die Nase stieg, erinnerte sie daran, dass es Kräuter und Gewürze gab, die einem die Sinne rauben konnten. Wenn sie den seltsamen Tee trank, würde sie den heiligen Männern willenlos zur Opferbank folgen.
Als ihr die junge Frau das Betäubungsmittel aufzwingen wollte, entriss Ayasha ihr den Becher und schüttete den Inhalt mit einer schnellen Bewegung ins Feuer. Ein sinnloser Triumph, denn ohne das Betäubungsmittel würde sie dem Tod bei vollem Bewusstsein ins Auge blicken müssen. Doch im Besitz aller ihrer Kräfte bestand wenigstens noch die Möglichkeit, den Zeitpunkt ihres Ablebens selbst bestimmen zu können.
Der Fremden schien es wenig auszumachen, dass Ayasha den Kräutertee nicht trinken wollte. Etwas wie Anerkennung und Respekt blitzte in ihren Augen auf, dann verließ sie die Hütte und verschwand in der Dunkelheit.
Ayasha atmete tief durch und stand mit halb geschlossenen Augen, als hätte sie den betäubenden Tee zu sich genommen, in der Hütte und betete scheinbar selbstvergessen, als die heiligen Männer sie abholten. Auch der Häuptling, der sie nach Süden gebracht hatte, war bei ihnen. Sie waren in mit bemalten Muscheln und bunten Federn verzierte Ledergewänder und prachtvolle Kopfbedeckungen aus Truthahnfedern gekleidet. Ihr Anführer trug den Balg eines Truthahns auf den langen weißen Haaren. Ihre strengen Gesichter waren mit seltsamen Bildern und Mustern aus roter und gelber Farbe bemalt.
Der Anführer sagte etwas, das sich wie eine Beschwörungsformel oder ein Gebet anhörte, ließ heiligen Tabak ins Feuer rieseln und wies seine Begleiter an, die Gefangene nach draußen zu begleiten. Leicht schwankend, als würde sie die Wirkung des Kräutertees spüren, trat Ayasha in die Dunkelheit. Böiger Wind trieb ihr entgegen. Über den Feldern jenseits der Pyramiden ließ Kitche Manitu grelle Blitze aufflackern, und der gewölbte Erdwall schien unter den heftigen Donnerschlägen zu erzittern. Aus den Augenwinkeln erkannte sie, dass sich selbst der ehrwürdige Anführer vor dem nahenden Unwetter fürchtete.
Auf dem Tempelplatz herrschte gespannte Erwartung. Viele Hundert Menschen hatten sich am Fuße der höchsten Pyramide versammelt und blickten ehrfürchtig zu der Plattform vor dem Tempelhaus empor. Im Schein eines großen Feuers stand ein Priester in einem Umhang aus verflochtenen Truthahnfedern und blickte huldvoll auf seine Untertanen herab. Vor ihm, auf dem kalten Stein der Opferbank, lag ein großes Messer mit verzierter Klinge. Der Leichnam eines Hohepriesters ruhte mit zahlreichen Opfergaben in einem Bett aus gefärbten Muscheln. Zu beiden Seiten der steilen Treppe, die zum Tempelhaus führte, brannten Fackeln.
Die Stimme des Priesters erklang, und alle Blicke richteten sich auf Ayasha, die von den heiligen Männern über den Tempelplatz geführt wurde. Heftiger Trommelschlag setzte ein und begleitete die Prozession zur Treppe.
»Kitche Manitu!«, rief Ayasha voller Verzweiflung.
Im selben Augenblick schoss ein gewaltiger Blitz vom Himmel und fuhr krachend in die Opferbank, riss sie
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