Der Stein der Wikinger
auseinander und schleuderte das Messer auf die Treppe. Der Federumhang des Priesters ging mit einem knisternden Geräusch in Flammen auf. Gewaltiger Donner dröhnte und erschütterte die Pyramide in ihren Grundfesten. Heftiger Regen prasselte vom Himmel.
»Kitche Manitu!«, rief Ayasha noch einmal.
Niemand hielt sie zurück, als sie die heiligen Männer zur Seite stieß und davonrannte und durch das offene Tor im Erdwall stürmte. Die Menschen glaubten an eine Strafe ihres Gottes und hatten sich ehrfürchtig zu Boden geworfen. Niemand half dem Priester, der in seinem brennenden Umhang zu Boden stürzte und die Treppe hinabfiel. Auf halber Höhe blieb er liegen, nur noch am Leben, weil der sintflutartige Regen die Flammen gelöscht hatte.
Ayasha hastete zum Flussufer und stieg in eines der Kanus. Mit dem Paddel stieß sie sich vom Ufer ab und steuerte flussaufwärts, den heimatlichen Jagdgründen der Waldleute entgegen. Dabei dankte sie leise Kitche Manitu, der sie, dessen war sie sich sicher, im letzten Moment vor einem grausamen Schicksal gerettet hatte.
HAKON
32
Hakon wusste nicht, wie viele Tage sie schon unterwegs waren. Er hatte längst zu zählen aufgehört. In dem Segel, das sie aus einer Wolldecke gefertigt und an einem behelfsmäßigen Mast befestigt hatten, fing sich der Nordostwind und trieb sie immer tiefer in das fremde Land hinein. Außer dem Rauschen von Wasser und Wind und dem gelegentlichen Glucksen, wenn ein Fisch aus dem Fluss sprang und wieder in die Wellen tauchte, war kaum ein Laut zu hören. Der Himmel war bedeckt und die Stimmung so andächtig und friedlich, dass sie nur zu flüstern wagten.
An den Ufern gab es kaum eine Spur von Leben. Ein mächtiges Tier mit einem schaufelförmigen Geweih tauchte zwischen den Bäumen auf, im Uferschilf raschelte ein Otter, und der Vogel mit den breiten Schwingen kreiste weit über ihnen, aber eingeborene Krieger waren nicht zu sehen. Nicht einmal ihre schlanken Boote lagen am Ufer. Anscheinend gaben sie sich damit zufrieden, die Mehrheit der blassen Eindringlinge auf das große Wasser im Osten zurückgetrieben zu haben.
Zu essen und zu trinken hatten Hakon und Edwin genug. Mit den bloßen Händen holten sie die Fische aus den ruhigen Seitenarmen des Flusses, und verpackt in eine Lederhaut lagen in ihrem Boot die besten Stücke eines Rehs, das Edwin mit einem Pfeil erlegt hatte. Den Bogen und den mit Pfeilen gefüllten Köcher hatte er einem der toten Eingeborenen abgenommen. »Ein Zufallstreffer«, hatte der ehemalige Sklave seinen Schuss kommentiert, doch Hakon erkannte immer mehr, dass Edwin ein bedeutender Mann gewesen sein musste, bevor Ingolf ihn gefangen und versklavt hatte.
Als Hakon seinen Begleiter darauf ansprach, hatte dieser wehmütig gelächelt: »Ich war der jüngste Sohn eines wohlhabenden Gutsbesitzers in Irland. Das Schießen mit Pfeil und Bogen habe ich auf der Jagd gelernt. Bedeutend? Nein, ich war nicht bedeutend. Selbst nach dem Tode meines Vaters wäre mir kaum etwas geblieben. Den Hof hätte mein älterer Bruder geerbt.« Er blickte auf den Fluss hinaus. »Sie sind alle tot. Mein Vater, meine Mutter, meine beiden Brüder. Die Knechte und Mägde. Die Leute im nahen Dorf. Solange ich Sklave war, hasste ich alle Nordmänner. Sie haben mir großes Unglück gebracht.«
»Und jetzt nicht mehr?«
»Du bist anders«, erwiderte er nach einigem Überlegen. »Ich weiß nicht, ob es an dem Kreuz liegt, das du um deinen Hals hängen hast, oder ob dich das heilige Buch und der Gedanke an die junge Frau zu einem neuen Menschen gemacht haben. Du bist anders als Ivar der Einarmige.«
Hakon konnte sich seine ungewohnten Gedanken und Gefühle selbst nicht erklären. Er folgte nur seiner inneren Stimme, und die war anders, seitdem er das Buch aufgeschlagen hatte. Es bereitete ihm keine Genugtuung mehr, einen unbewaffneten Menschen umzubringen. Er war ein Krieger, das stand fest, und sein Ansehen würde immer davon abhängen, in wie vielen Kämpfen er sich bewährt hatte, aber er würde nur noch gegen Männer kämpfen, die ihn angriffen, ihm ebenbürtig und bewaffnet waren. Ein Kloster zu überfallen und wahllos Mönche zu töten, würde ihm nicht mehr einfallen. Besitz interessierte ihn nicht mehr. Sein Ziel war die Vereinigung mit der Frau aus diesem herrlichen Land, die Odin oder Thor oder der Gott der Christen für ihn bestimmt hatten.
Vielleicht war sie sogar mit den Kriegern verwandt, die sie angegriffen hatten. Ihre Haut hatte die
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