Der Stein der Wikinger
ihre Sklaven nachts in einem Zelt schlafen und banden sie nicht an einen Pflock vor dem Eingang. Um Edwin in seine Hände zu bekommen, müsste er es mit der ganzen Sippe aufnehmen. Nein, musste er sich missmutig eingestehen, es war beinahe unmöglich, den Jüngling zu rauben.
In dieser Nacht schlief Hakon sehr unruhig. Der Gedanke, das wertvolle Buch in unmittelbarer Nähe zu wissen und es nicht einmal berühren zu können, trieb ihm den Schweiß auf die Stirn.
Völlig nass geschwitzt schreckte er aus einem Albtraum, in dem ihn Ivar bedroht hatte. Er stützte sich auf die Ellenbogen und blickte sich nervös um. Von dem Feuer, das sie zwischen den Zelten entfacht hatten, waren nur noch einige Scheite übrig, und er konnte kaum etwas sehen. Die Männer in seinem Zelt schliefen alle. Aus dem Nachbarzelt, in dem Kolfinn mit seiner Frau nächtigte, drang lautes Schnarchen herüber. Hakons Gefühl sagte ihm, dass es um Mitternacht war.
Er stand vorsichtig auf und band sich sein Schwert um. Geduckt schlich er nach draußen. Die Gewitterwolken hingen bereits über der Stadt und verdeckten den Mond und die Sterne. Nur am Rauch, der aus den Kaminen drang und wie Nebel über den Häusern lag, erkannte man, dass die Stadt bewohnt war. Außer einigen Feuern, die unterhalb des Walls brannten, gab es kaum Licht.
»Willst du mich ablösen, Hakon?«, fragte Nafni. Er hatte die Mitternachtswache übernommen und hockte im Schatten der Zelte, sein Schwert griffbereit über den Knien. Ein Nordmann war immer kampfbereit, auch in einer Siedlung wie Haithabu. »Du hast im Schlaf gesprochen und gestöhnt.«
Hakon erschrak. »Was hast du gehört?«
Der Schiffsbauer lachte. »Du hast von einer Frau geredet, die du unbedingt besitzen musst. Bist du bei den letzten Überfällen nicht auf deine Kosten gekommen? Oder dauert es dir zu lange, bis du Gunnhild besteigen darfst?«
»Unsinn«, erwiderte Hakon erleichtert. »Ich bin immer auf meine Kosten gekommen. Und ich hätte noch viel mehr Sklavinnen haben können, wenn ich sie nicht redlich mit den anderen Männern der Sippe geteilt hätte.« Das war natürlich gelogen, denn die Frauen, die er besessen hatte, konnte man an einer Hand abzählen, aber es erschien ihm im Moment die beste Ausrede.
»Wo willst du hin?«, fragte Nafni, als Hakon weiterging.
»Zum Hafen. Das Meer bringt mich auf andere Gedanken.«
»Du hast recht, mein Freund.« Nafnis Neugier hatte sich verflüchtigt oder es war ihm egal, von wem Hakon träumte. »Was wären wir ohne das Meer, nicht wahr?« Er wartete, bis Hakon einige Schritte gegangen war, und rief leise: »Lass dich nicht vom rechten Weg abbringen, hörst du?«
Jetzt ahnte Hakon, was Nafni dachte. Der Schiffsbauer hatte ihn wohl im Verdacht, sich mit einer anderen Frau zu treffen, um vor der Ehe mit Gunnhild noch einmal das Leben eines unverheirateten Mannes auszukosten. Normalerweise hatte eine Ehefrau nichts dagegen, wenn ihr Mann mit einer Sklavin schlief, sie amüsierte sich höchstens darüber. Aber Gunnhild war aus einem anderen Holz geschnitzt, das hatte man schon daran gesehen, wie sie die junge Astrid behandelte. Sie würde keine andere Frau in ihrer Nähe dulden, auch keine Sklavin.
Sollte Nafni ruhig glauben, dass er sich mit einer Geliebten in Haithabu amüsierte. Hakon wusste selbst nicht, was er tun sollte, und lief tatsächlich zum Hafen hinunter. Er blieb im Ufersand stehen und blickte auf die vielen Schiffe, die an der Mole festgemacht hatten. Dahinter öffnete sich der schützende Palisadenzaun zum Meer und ließ trotz der Dunkelheit die unendliche Weite erahnen, die sich bis zum Rand der Erde erstreckte. Ein Blitz zuckte aus dem schwarzen Himmel und spiegelte sich tausendfach in den schäumenden Wellen.
»Sag mir, was ich tun soll, Odin!«, flehte Hakon leise, den Blick zum Himmel gerichtet. »Steig von deinem Wagen und zeige mir die Richtung, in die ich gehen soll! Thor, lass deinen Hammer sprechen und hilf mir das Richtige zu tun! Sage mir, wie ich dem Araber das Buch abnehmen kann!«
Aus dem Himmel kam keine Antwort. Erst als er sich umdrehte und niedergeschlagen zu den Zelten zurücklaufen wollte, grollte wieder Donner über der Stadt. Beinahe gleichzeitig flammte ein Blitz auf und tauchte die Häuser in gespenstisches Licht. Der Himmel brannte für einen Augenblick lichterloh.
Hakon blieb erschrocken stehen und starrte auf einen nahen Brunnen, der sich deutlich gegen den leuchtenden Himmel abzeichnete. Dort stand ein Jüngling,
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