Der Stein der Wikinger
Kanu ließ sich vom Wind den Fluss herauf treiben und kam stetig näher. Aus dem Uferschilf stiegen Kraniche auf und flogen verstört davon, ein Otter huschte aus dem Wasser und rettete sich ins Unterholz. Ein ganzer Schwarm brauner Enten erhob sich aus dem Sumpf in einer Bucht und erfüllte den Himmel mit nervösem Geschnatter. Ein Adler zog seine Kreise über dem schwimmenden Riesenvogel und glitt seitlich zum Wind nach Westen davon.
Ayasha konnte ihren Blick nicht von dem seltsamen Kanu lösen. Von dem riesigen Boot schien eine magische Kraft auszugehen. Sie hörte bereits das Knarren der rotweißen Schwingen und erkannte, dass sie nicht aus Leder, sondern einem ihr unbekannten, weitaus elastischeren Material gefertigt waren. Starke Taue verbanden sie mit dem Rand des Kanus. »Kitche Manitu«, flüsterte sie in dem Glauben, der Herr des Lebens würde dieses Kanu steuern und wäre aus der anderen Welt gekommen, um sich ihr im Traum zu zeigen.
Ein Mann erschien an der Reling des riesigen Kanus und streckte die Hand nach ihr aus, als wollte er sie an Bord des fremden Bootes ziehen. Ein seltsamer Mann. Seine Haut war weiß, so weiß wie das Gefieder mancher Enten, und seine Haare leuchteten gelb wie reifer Mais und hingen offen bis auf seine Schultern herab. Er trug ein seltsames Wams aus dunklem Leder und hatte ein unglaublich langes Messer an seiner Hüfte hängen. Die Waffe bestand aus einem harten Material, das sie noch nie gesehen hatte. Es glänzte in der Sonne.
Aber nicht die Waffe faszinierte sie, sondern der Mann. Schon beim ersten Blick in seine blauen Augen begriff sie, dass er ihretwegen gekommen war. Woher sie das wusste, vermochte sie nicht zu sagen. Er war ein mächtiger Krieger, das sah man schon an der Art, wie er stand, und an der Größe seine Kanus, und seine Augen waren von einem so geheimnisvollen Blau, dass sie darin zu ertrinken glaubte. Als er auf gleicher Höhe mit ihr war, schien sein Boot langsamer zu werden. Er beugte sich weit über die Reling und versuchte ihre Hand zu ergreifen, doch ihr Kanu war zu weit weg, und obwohl auch sie sich weit vorbeugte, glitten sie aneinander vorbei und sein Boot verschwand.
Zwei Hände rissen sie hoch und stießen sie unsanft an Land. Die Vision war verschwunden und sie blickte in das Gesicht des Kriegers, der sie beinahe erschlagen hätte, hörte wieder die scharfe Stimme des Anführers, der ihn wohl anwies, sie etwas sanfter anzufassen. Er gehorchte widerwillig und zog sie an den Armen in den Ufersand. »Du gesund werden«, hörte sie den Anführer in ihrer Sprache sagen. »Du bald gesund!«
Ayasha blickte sich verwirrt um. Sie erkannte, dass sie sich am Ufer des Sees befanden, in den der Fluss mündete, an dem ihr Dorf lag. Sie mussten den Fluss verlassen haben und am Ufer des großen Wassers entlanggefahren sein. Der Stand der Sonne, die bereits weit nach Westen gewandert war, verriet ihr, dass fast ein ganzerTag seit ihrem Aufbruch vergangen war.
Ihre Wunde schmerzte noch immer, aber das Pochen war nicht mehr so heftig. Anscheinend hatte einer der Krieger die Pfeilspitze unterwegs aus ihrem Körper geschnitten und die Wunde mit Feuer ausgebrannt. So machten es auch ihre Leute, wenn jemand verletzt war. Aber warum schonte der Anführer ihr Leben? Warum hatte er sie nicht getötet und in den Fluss geworfen? Warum wünschte er ihr sogar, bald gesund zu werden?
Wollte er sie zur Frau nehmen? Sie in den Stamm adoptieren?
Ayasha wusste es nicht. Sie ahnte nur, dass ihr Schicksal schlimmer als der Tod sein würde.Viel schlimmer. Keiner dieser Feinde mit den kurz geschorenen Haaren hatte jemals einen Mann oder eine Frau der Waldleute verschont.
Wenn sie wollten, dass sie gesund wurde, hatten sie etwas ganz Bestimmtes mit ihr vor. Etwas so Grausames, dass es jenseits ihrer Vorstellungskraft lag. »Kitche Manitu«, flüsterte sie, »hilf mir, es zu ertragen!«
HAKON
14
Dunstige Schwaden hingen über dem Acker und ließen Ivar wie einen mächtigen Schatten aus der Unterwelt aussehen. Er stand breitbeinig im Schlamm, das Schwert in der Rechten und strahlte die Zuversicht eines Mannes aus, der noch nie besiegt worden war. »Ich bin gekommen, um dich zu töten, Hakon!«, rief er verächtlich. »Was das Meer nicht geschafft hat, werde ich mit dem Schwert vollenden! Stell dich, Feigling!«
»Du nennst mich einen Feigling?«, erwiderte Hakon. »Ich habe einen der stärksten Krieger der Schafsinseln besiegt. Und Ingolf, diesen schäbigen Verräter, habe
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