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Der Stein der Wikinger

Der Stein der Wikinger

Titel: Der Stein der Wikinger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Jeier
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können. Sie war so abgelegen, dass Ivar und Ingolf sie nur finden würden, wenn sich die Götter auf ihre Seite schlugen.
    Er öffnete die Tür und sah sich einer alten Frau gegenüber. Sie hockte im Schein eines Herdfeuers auf einer Holzbank und war wenig überrascht, als er die Hütte betrat. Die Flammen flackerten im böigen Wind.
    »Warum schließt du nicht die Tür?«, fragte sie in einer Sprache, die seiner so verwandt war, dass er sie verstand. »Du löschst noch das Feuer.«
    Er zog die Tür hinter sich zu und blickte sie erstaunt an. Sie war die älteste Frau, die er jemals gesehen hatte. Ihre Haare waren weiß und hingen lose bis auf ihre Schultern herab, ihr Gesicht erinnerte ihn an gegerbtes Leder und war von unzähligen Falten durchzogen. Doch ihre Augen waren jung, ihr Blick wach und klar und voller Leben.
    Sie lächelte hintergründig. »Ich habe dich erwartet.«
    »Du wusstest, dass ich komme?«
    »Ich bin alt«, erwiderte sie. »Wie alt, vermag ich nicht zu sagen. Manche Leute behaupten, dass ich weise bin.« Ihr Lächeln verstärkte sich. »Ich weiß nur, dass ich vieles weiß, was andere nicht wissen oder verstehen.«
    »Ich bin Hakon von … von weit her«, stellte er sich vor.
    »Und ich bin die Frau, die dein Bein verarzten wird«, erwiderte sie. »Setz dich!« Sie deutete auf die Bank ihr gegenüber. »Zieh dein Beinkleid nach unten. Du brauchst dich nicht zu schämen, ich habe viele Männer gesehen.«
    Er schob den zerfetzten Stoff seines Beinkleides über die Knie und beobachtete neugierig, wie sie einige Kräuter aus einem Beutel in ihrer Umhängetasche kramte. Sie schob sie in ihren zahnlosen Mund und vermischte sie mit ihrem Speichel zu einem zähen Brei. Mit den Fingern strich sie ihn auf die Wunde. Schon bei der sanften Berührung ließen die Schmerzen nach. Er zog das Hosenbein darüber und nickte ihr dankbar zu. »So ist es besser.«
    Sie stand auf und holte ihm eine Schale von der Fischsuppe, die in einem kleinen Kessel über dem Feuer kochte. »Iss, mein Sohn!«, forderte sie ihn auf.
    Die Anrede erinnerte ihn an Kolfinn und ließ ihn nervös zur Tür blicken. Seine Hand näherte sich dem Schwert, zuckte zurück, als sie ihm einen Löffel reichte. Sie hatte die Bewegung bemerkt und blickte ihn lange an.
    »Du wirst verfolgt.« Es klang wie eine Feststellung.
    Er wusste inzwischen, dass er ihr nichts vormachen konnte. »Ich besitze etwas, das auch andere haben wollen. Etwas sehr Wertvolles. Es würde ihnen viele Münzen oder schweres Silber bringen. Ich kann es ihnen nicht geben, denn für mich ist es unbezahlbar. Meine Zukunft, mein ganzes Leben hängt davon ab. Wenn sie mich aufspüren, muss ich kämpfen.«
    »Ein Buch«, erkannte sie.
    »Woher weißt du das?«, wunderte er sich.
    Sie deutete auf die Ausbuchtung seines Wamses. »Ich sehe, wie wichtig dieses Buch für dich ist, auch wenn ich den Grund dafür nicht erkennen kann.« Sie sah ihm beim Essen zu. »Du brauchst ihn mir nicht zu nennen. Ich werde nur so lange bei dir bleiben, bis du stark genug für den Kampf bist.«
    Er hielt mitten in der Bewegung inne. »Für den … Kampf?«
    »Deine Verfolger sind nicht mehr weit, mein Sohn.« Sie wandte sich zur Tür, als könnte sie durchblicken. »Zwei Männer. Sie sind sehr gefährlich. Sie wollen sich an dir rächen und dir das Buch abnehmen. Aber einer ist benommen und kommt nicht so schnell voran wie sein Anführer mit den wilden Augen. Du wirst nacheinander gegen sie kämpfen müssen, mein Sohn. Ich weiß, dass du sie besiegen kannst. Gegen beide würdest du nicht ankommen, aber einen nach dem anderen kannst du besiegen. Ich werde dir einen Schluck von meinem Zaubertrank geben.«
    Sie nahm ihm die Schale und den Löffel ab und reichte ihm ein Horn mit einem scharfen Getränk, das ihn an Met erinnerte. Schon nach dem ersten Schluck fühlte er, wie neues Leben durch seine Adern floss. »Ah, das tut gut«, sagte er mit leuchtenden Augen. »Bist du eine Zauberin?«
    »Ich bin eine alte Frau …«
    »Ich weiß. Und manche behaupten, dass du weise bist.«
    Sie lächelte. »So ist es, mein Sohn. Schlaf jetzt!«
    »Ich soll … schlafen?«
    »Du wirst aufwachen, wenn du gebraucht wirst.«
    Er gehorchte und legte sich auf das Bärenfell, das neben dem Herdfeuer auf dem Boden lag. Von den Flammen strahlte angenehme Wärme herüber. Er schloss die Augen und glitt in einen traumlosen Schlaf, in dem ihm die feuchten Kräuter den Schmutz aus seiner Wunde saugten und neue Kraft verliehen.

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