Der Stein der Wikinger
Sein Atem ging regelmäßig wie bei einem Säugling.
Er wachte erst auf, als das Feuer heruntergebrannt war und die Kälte ihn in die Wirklichkeit zurückholte. Seltsamerweise war er sofort hellwach. Er stand auf, stellte erstaunt fest, dass die Alte verschwunden und die Tür ein wenig geöffnet war. Er zog sie ganz auf und sah Ivar über den Acker kommen.
Ayasha
13
Ayasha wartete auf den tödlichen Hieb, der sie zu ihren Ahnen auf die andere Seite schicken würde, aber nichts geschah. Ein kräftiger Krieger, anscheinend der Anführer, war neben den Mann mit der erhobenen Streitaxt getreten und hielt ihn mit einer gebieterischen Handbewegung zurück. Er herrschte ihn in einer Sprache an, die sie nicht verstand, und stieß ihn unsanft zur Seite.
Sie war viel zu erschöpft, um klar sehen zu können. Nur schemenhaft erkannte sie den Anführen, der sie vor dem Tod bewahrt hatte, sein kantiges Gesicht mit der feuerroten Narbe und die Kette aus Bärenzähnen auf seiner nackten Brust. Er rief einen Befehl, und sie spürte, wie zwei Krieger sie vom Boden aufhoben und zum Kanu trugen. Sie stöhnte vor Schmerzen, schloss die Augen, öffnete sie wieder und glaubte zu erkennen, wie ihre Waldleute die Feinde mit einem Pfeilhagel empfingen und die ersten Krieger in den Fluss wateten und sich auf die Männer in den Booten stürzten.
Der Anführer schrie etwas und forderte seine Krieger mit heftigen Gesten auf, sich zurückzuziehen. Sie wendeten ihre Kanus und versuchten mit heftigen Paddelschlägen den tödlichen Pfeilen zu entgehen. Im wabernden Nebel flohen sie in die Bucht, aus der sie gekommen waren. Aus dem Dorf der Waldleute waren Siegesschreie zu hören. Ihre Brüder hatten die Feinde vertrieben.
Ayasha schloss erleichtert die Augen. Sie hatte ihr Volk rechtzeitig gewarnt und vor einem Massaker bewahrt. Ihr Tod würde nicht umsonst sein. Mit ihrem Opfer hatte sie ihr Volk vor dem Untergang gerettet. Man würde von ihrer selbstlosen Tat am abendlichen Feuer erzählen, und die wandernden Geschichtenerzähler würden sie in den Dörfern fremder Völker preisen. Man würde sich noch in vielen Wintern an ihren Namen erinnern.
Mit diesem tröstlichen Gedanken verlor sie endgültig das Bewusstsein. Sie versank in Dunkelheit und trieb durch Raum und Zeit. Es gab keine Schmerzen mehr. Eine seltsame Leichtigkeit erfasste sie und gab ihr das Gefühl, sich von ihrem Körper zu lösen und wie ein Adler über der Erde zu schweben. Ein traumhafter Zustand, wie ihn die jungen Krieger erlebten, wenn sie in die Einsamkeit zogen und vier Tage und vier Nächte fasteten, um Kitche Manitu zu begegnen und den Sinn ihres Lebens zu begreifen. Ah, es war ein gutes Gefühl. Sie fühlte sich unbeschwert und frei von Sorgen.
Ayasha setzte sich auf und hielt sich am gewölbten Rand des Kanus fest. Ihre Augen waren jetzt schärfer als je zuvor und sie konnte durch den Nebel sehen. Seltsame Geräusche drangen zu ihr. Leise Stimmen in einer Sprache, wie sie ihr noch niemals zu Ohren gekommen waren. Nach einer Weile verstummten sie und nur noch das leise Plätschern des Flusses war zu hören. Angenehme Stille lag über den Wellen. Einige Wasservögel schwebten mit lautlosen Flügelschlägen über die Wellen und verschwanden im Uferschilf.
Düstere Schleier trieben zwischen die Bäume zu beiden Seiten des Flusses. Über dem Wald tauchte die Sonne auf und kletterte langsam am Himmel empor. Ihre Strahlen färbten die verbliebenen Nebelfetzen rosarot und brachten das Wasser zum Glitzern. Wie flüssiges Silber schimmerten die Sonnenflecken auf den tanzenden Wellen.
Sie erreichten eine Biegung und ließen sich mit der Strömung nach Südosten treiben. Frischer Wind trieb ihnen entgegen. In der Ferne, an einer Biegung, an welcher der Fluss besonders breit war, schob sich ein dunkler Schatten vor die Sonne und kam langsam auf sie zu. Seltsamerweise empfand Ayasha keine Angst. Sie kniff ihre Augen gegen die blendende Sonne zusammen und glaubte ein riesiges Kanu zu erkennen, so groß und breit, wie sie es noch nie gesehen hatte. Der Bug war wesentlich höher und geschwungener als bei ihren Booten und mit einer aus Holz geschnitzten Figur verziert, die sie nicht genau erkennen konnte. Am beeindruckendsten aber war die gewaltige, mit roten und weißen Streifen verzierte Lederhaut, die sich mit Wind gefüllt an einem hohen Mast blähte, wie das Gefieder eines schwimmenden Vogels, der im Begriff war, sich vom Wasser zu lösen und davonzufliegen.
Das große
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