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Der steinerne Engel

Titel: Der steinerne Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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des Friedhofs. Das leise Geraschel der Zweige verstummte ganz plötzlich, als habe der Wind eine Tür hinter sich geschlossen. Es war kälter geworden und unnatürlich still. Kein Insektenlaut, kein Vogelruf war zu hören. Die Steine warfen jetzt, da der Tag sich neigte, lange Schatten.
    Er spürte einen leisen Hauch auf der Haut, als sei jemand unbemerkt vorbeigegangen und habe dabei sein Gesicht gestreichelt. Er fröstelte unwillkürlich. Es war ein erregendes Gefühl.
    Nicht auszudenken, was Vetter Max mit so einer Bühne hätte anfangen können!
    Friedhöfe waren ideal für die Kunst des Illusionisten. Allein die Atmosphäre hätte ihm die halbe Arbeit erspart.
    Als Charles sich Henry Roths Vorgarten näherte, hörte er einen Motor. Sein Wagen stand silberglänzend in der breiten Einfahrt und reflektierte die Abendsonne. Ein zweites Fahrzeug war nicht zu sehen. Als er die Eingangstür erreichte, spürte er förmlich, dass niemand zu Haus war. Das Motorengeräusch verstummte plötzlich, das Fahrzeug musste demnach ganz in der Nähe sein.
    Er folgte der gewundenen Einfahrt, die an einem geräumigen, an eine leere Garage angebauten Hühnerstall vorbei zu einer Lichtung mitten im Wald führte. Dichtes Geäst verdeckte den oberen Teil einer alten Kapelle aus grob behauenen grauen Steinblöcken, sodass man nur die Bogenfenster und die geöffnete Tür erkennen konnte. Ein großer, mit einer Plane bedeckter Gegenstand lag auf der Ladefläche eines roten Pick-up, der vor der Kapelle stand.
    Charles ging um den Pick-up herum und ein paar Stufen hinauf. Auf der Schwelle blieb er stehen. In die Wölbung der Decke waren zwei große Oberlichter eingelassen. Die langsam vorbeiziehenden rosagoldenen Wolken schienen fast das Glas zu streifen.
    Abendliche Schatten füllten den weiten Raum. Im Hintergrund waren in einem Kreis, dort, wo früher der Altar gestanden hatte, geisterhaft weiß verhüllte Gestalten angeordnet. Unverhüllte Arbeiten aus Granit und Marmor in den verschiedensten Bearbeitungsstadien waren locker im Raum verteilt. Viele Figuren besaßen Flügel und schienen aus dem noch unbehauenen Stein herauszustreben.
    Ein kleiner, zierlicher Mann tauchte aus dem Dunkel auf. Es schien, als tanze er mit einer hoch gewachsenen Frau aus Stein. Das seltsame Paar glitt an einem langen Arbeitstisch entlang, und jetzt sah Charles die Füße des Mannes und die Rollpalette unter seiner steinernen Partnerin.
    Charles war drauf und dran, etwas zu rufen. Gerade noch rechtzeitig fiel ihm ein, dass Henry Roth sich nur in Zeichensprache und schriftlich verständigen konnte. Ohne sichtbare Überraschung wandte der Bildhauer sich zu seinem ungebetenen Gast um. Vermutlich hatte er die Schwingungen seiner Schritte auf den Dielenbohlen gespürt.
    Henry Roth war weder schwarz noch weiß, sondern eine ganz neue Rasse mit goldener Haut und hellbraunen Augen, in denen grüne Pünktchen leuchteten. Sein Haar war schlohweiß und kurz geschnitten. Die Gesellschaft der Engel schien ihm gut zu tun, denn sein Lächeln war sanft und sehr liebenswert. In einer fragenden Bewegung breitete er die Hände aus.
    Charles musste einen Augenblick überlegen, aber dann erinnerte er sich sehr schnell an die Zeichensprache. Als kleiner Junge hatte er sich in ihr unterhalten können, ehe er in der Lage war, laut und deutlich zu sprechen. Es war seine erste Sprache, die er allerdings seit über zwanzig Jahren, seit dem Tod seines Vaters, nicht mehr benutzt hatte. Mit ausladenden Gesten und Fingerzeichen sagten seine Hände: »Mein Name ist Charles Butler. Sie sind Mr. Roth?«
    Der Mann nickte. Charles sprach mit den Händen weiter. Wenn die Erinnerung ihn im Stich ließ, deutete er Buchstabe für Buchstabe an. Hin und wieder machte er einen Fehler, aber während er mit den Fingern in die Luft stach und eine Hand im Kreis tanzen ließ, erinnerte er sich wieder aller Feinheiten, einschließlich der Zeiten und Adverbien. Mit dem entsprechenden Gesichtsausdruck unterstrich er seine Empfindungen, als er seine Beziehung zu Kathy Mallory schilderte, die Henry Roth wohl nur als die kleine Kathy Shelley kannte. Mit dem Heben einer Augenbraue deutete er ein Fragezeichen an und machte schmale Lippen, um – gleichsam mit einem Ausrufezeichen! – zu betonen, wie dringend er sie sprechen musste.
    Nur völlig Ahnungslose glauben, dass die Zeichensprache nichts anderes als stumme Pantomime ist. Diese elegante dreidimensionale Sprache der durch den Raum fliegenden Hände ist die

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