Der steinerne Engel
dem Büro des Sheriffs hinüber.
Da bist du also. So nah.
Er blieb noch lange, nachdem die anderen Gäste auf ihre Zimmer oder den Empfehlungen von Betty folgend zum Essen gegangen waren, auf der Veranda sitzen. Und als es im Haus dunkel geworden war, saß er noch immer da und starrte auf das Licht in dem Fenster auf der anderen Seite des Platzes, bis auch das erlosch.
Gute Nacht, Mallory.
3
Es war schon spät, aber Lilith Beaudare blieb so lange bei ihrer Cousine sitzen, bis sie die Familiengeschichte der langen Jahre seit ihrem letzten Besuch aufgearbeitet hatten.
Im Licht eines Streichholzes leuchtete das Gesicht der alten Dame rötlich auf. Sie zündete sich eine Zigarre an und blies blauen Rauch in die Nachtluft.
»Du solltest nicht rauchen«, sagte Lilith in belehrendem Tonfall. »Willst du wirklich in den letzten Jahren deines Lebens herumkeuchen und nach Luft schnappen, weil du ein Lungenemphysem hast?«
»Du hast ja so Recht«, erwiderte Augusta. »Am vernünftigsten wäre es, sofort aufzuhören.« Der Rauch zog in trägen Wirbeln um sie herum. »Disziplin und Selbstverleugnung – das wäre das Richtige für mich.«
Lilith nickte.
»Und wenn ich dann neunzig bin«, fuhr Augusta fort, »den grünen und den grauen Star habe und nicht mehr sehen kann, wenn mich die Arthritis krumm gemacht hat und sie mir die verkrebsten Brüste abgenommen haben – dann kann ich sagen: Gott sei Dank hab ich kein Lungenemphysem.« Augusta warf den Kopf zurück und lachte. Es war ein erstaunlich junges, lebendiges Lachen.
In der Dunkelheit sah man nichts von ihren Runzeln und Falten, sondern nur noch den straffen, aufrechten Körper und das wallende lange Haar der berühmten Schönheit, die manch einen jungen Mann unter den Tisch getrunken hatte, um ihn in der Liebe und in harten geschäftlichen Verhandlungen besser niederringen zu können.
Augusta war auch eine sagenhaft gute Reiterin gewesen. Als Kind hatte Lilith ihr wie gebannt bei ihren Ritten über den Deich zugesehen. Am schönsten war immer der Moment gewesen, wenn Augusta die steile Böschung hinunter heimwärts geritten war. Dann hatte man nur den massigen Leib des Pferdes gesehen und nicht seine Beine, sodass es schien, als fliege das Tier durch die Luft. Nie würde Lilith den Anblick des geflügelten Pferdes vergessen.
Augusta hatte aufgehört zu lachen.
»Ich hab auf dem Friedhof den Engel gesehen«, sagte Lilith scheinbar beiläufig.
»Auf dem Friedhof gibt es sechzehn Engel.« Augusta trank den letzten Schluck Kaffee und griff nach der Kanne, die auf dem kleinen Korbtisch neben ihr stand.
Gerade noch rechtzeitig konnte Lilith die Warnung vor den schädlichen Folgen des Koffeins hinunterschlucken, die sie schon auf der Zunge hatte. »Ich meine den Engel. Dass Cass Shelley so schön war, hatte ich ganz vergessen. Die Gefangene ist also wirklich Kathy?«
»Wenn ich das wüsste, hätte ich mich nicht an Mr. Butler zu wenden brauchen.«
Das klang gereizt, und Lilith witterte Morgenluft. »Aber du hast die Leute in der Stadt reden hören, du denkst –«
»Beleidige mich nicht«, sagte Augusta scharf.
»Ich bin nur neugierig«, schwindelte Lilith.
»Na schön. Nehmen wir mal an, ich wäre die vertrottelte Greisin, für die du mich offenbar hältst.« Augusta lehnte sich in ihrem Korbsessel zurück, aber zwischen den beiden Frauen knisterte es vor Spannung. »Nehmen wir mal an, die Gefangene ist tatsächlich Kathy. Sie ist in Louisiana geboren, und ich glaube fest daran, dass eine Frau die Durchtriebenheit schon mit der Muttermilch einsaugt. Angeblich spricht sie aber wie eine aus dem Norden, demnach hat sie wohl die ganze Zeit dort gelebt. Da sind nun also die Frau aus dem Süden und die Frau aus dem Norden in einem Kopf und einem Körper zusammengekommen.« Sie lächelte grimmig. »Eine brisante Mischung, Lilith. Du solltest sie nicht unterschätzen.«
Lilith verzog die Lippen, um eine Bemerkung zurückzudrängen, die Augusta bestimmt übel genommen hätte.
Die Ältere fuhr fort. »Ich weiß schon, worauf du aus bist. Aber wenn ich wetten müsste, würde ich nur fifty-fifty darauf setzen, dass du es auch schaffst.«
Lilith summte leise vor sich hin und wippte auf den Hinterbeinen ihres Stuhls, um ihren Ärger abzureagieren. Aus einem Augenwinkel beobachtete sie Augusta und lächelte unwillkürlich, als sie merkte, dass die Cousine genau das Gleiche tat. Nach einem weniger brisanten Gesprächsthema suchend, fragte sie: »Reitest du immer noch
Weitere Kostenlose Bücher