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Der steinerne Engel

Titel: Der steinerne Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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wahre Kunst der Konversation. Eine Geste deutete elegant den Vogelflug an, und dann tanzten Charles’ Finger über eine unsichtbare Bühne in der Luft und erläuterten dem Bildhauer, wie die schlaue Augusta ihn Lilith als einen von ihr beauftragten Ermittler vorgestellt hatte. Noch einmal bat Charles eindringlich um Hilfe – dann schwiegen seine Hände.
    Henry Roth hatte den langen, komplizierten Bericht aufmerksam und sehr geduldig verfolgt. Jetzt lächelte er breit, und seine Hände sagten: »Ich bin nicht taub, nur stumm!« Er schüttelte sich vor Lachen, als sei das ein guter Witz. Und wahrscheinlich, dachte Charles, ist es das auch.
    »Tut mir Leid«, sagte er laut. »Ich hätte nicht so selbstverständlich davon ausgehen dürfen …«
    »Da sind Sie nicht allein«, bedeutete ihm der Stumme mit den Händen. »Die Leute in der Stadt glauben seit fünfundsechzig Jahren, dass ich nichts hören kann.« Aber, meinte er, das störe ihn nicht, weil die Leute die erstaunlichsten Dinge sagten, wenn sie glaubten, dass er sie nicht verstand. »Ich lebe in einem Lauscherparadies.«
    Dann kamen sie wieder auf Mallory zu sprechen, und Charles sagte: »Ich möchte sie nicht erschrecken, indem ich unangemeldet auftauche. Sie könnte denken, dass ich dem Sheriff etwas verrate.«
    In Wirklichkeit würde sie davon ausgehen, dass er genau das getan hatte, denn sie wusste, dass all ihre Versuche, ihm die Kunst des Lügens und des Pokerspiels beizubringen, kläglich gescheitert waren. Trotz seines unglaublich hohen Intelligenzquotienten war er in ihren Augen hoffnungslos lernbehindert.
    »Wären Sie bereit, Mallory auf meinen Besuch vorzubereiten? Sie könnten ihr sagen, dass Augusta voll hinter ihrer Erklärung steht, ich sei in ihrem Auftrag unterwegs, in der Nachlasssache zu ermitteln. Wollen Sie mir helfen?«
    Der Bildhauer drehte die Handflächen nach oben und hob und senkte sie in einer gleichsam abwägenden Bewegung. Er werde es sich überlegen, sagte er, vielleicht werde er morgen mit Mallory sprechen, aber nur, wenn er sicher sein könne, dass der Sheriff keine peinlichen Fragen stelle – und das war recht unwahrscheinlich. Es falle ihm schwer, einen Mann zu belügen, den er so lange kenne, und Charles solle sich keine allzu großen Hoffnungen machen. Dann ließ er die Hände sinken. Er hatte alles gesagt.
    Charles hob seinerseits die Hände, als wolle er sprechen, aber dann breitete er sie nur in hilfloser Enttäuschung aus und senkte den Blick. »Ich verstehe.« Der Bildhauer hatte keinen Grund, ihm zu vertrauen, ihm zu helfen, für ihn zu lügen.
    Henry Roth zuckte die Schultern, um anzudeuten, dass er ihm nicht weiter entgegenkommen konnte, und bedeutete Charles, dass er nun arbeiten müsse.
    Charles folgte dem Bildhauer zur Tür und sah zu, wie er eine metallene Rampe über die Steinstufen an das Heck des Pick-up legte und zwei Metallstützen herausklappte, um die Rampe zu stabilisieren. Er rollte eine Palette an den Pick-up heran und versuchte, den großen, mit einer Plane verhängten Stein auf die Rampe zu befördern.
    Das metallische Geräusch ließ darauf schließen, dass die Unterlage unter dem Stein auf Kugellagern lief. Dennoch war es für einen so kleinen Mann eine langwierige und mühevolle Arbeit. Charles zog schnell sein Jackett aus und rollte die Ärmel hoch. »Wenn Sie gestatten …«
    Henry Roth trat zur Seite, und Charles zog den Stein so weit heraus, dass er zur Hälfte über die Ladefläche hinausragte. Dann legte er ihn vorsichtig schräg, und die Unterseite des Steins glitt langsam auf die Rollpalette zu. Als sie dort angekommen war, schob er mit dem Fuß rasch die Palette unter den Stein und stellte ihn aufrecht. Dann legte er die Schulter an den Block und schob ihn über die Rampe bis zum Atelier des Bildhauers. Der lächelte dankbar und bedeutete Charles mit den Händen: »Um einen Block von dieser Größe auszuladen, brauche ich eine Stunde.«
    Roth schloss die Kapelle ab, und sie gingen zusammen zum Haus zurück. Dort verabredete sich der Bildhauer mit Charles für den nächsten Tag in der Stadt, denn ihm war inzwischen eingefallen, wie er den Sheriff mit seinen bohrenden Fragen austricksen konnte.
    Lächelnd fuhr Charles mit dem Mercedes um den Friedhof herum bis zur Brücke. Dort stand ein Wegweiser mit einem hölzernen Pfeil, der grau und verwittert und von dessen Beschriftung nur ein V übrig geblieben war, das den Reisenden zu verspotten schien. Der geheimnisvolle Pfeil deutete in eine

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