Der steinerne Engel
Nebenstraße, einen dunklen, schmalen Tunnel aus tief hängenden Zweigen. Ein Schild an einem Baum in der Nähe warnte Charles vor dem Sumpf jenseits des Finger Bayou, eines schmalen Wasserwegs entlang der namenlosen Straße.
Das Schild »Upland Bayou« war an den Stahlträgern der Brücke befestigt. Jetzt, am Abend, wirkte das träge dahinfließende Gewässer, das breiter war als der Finger Bayou, tiefschwarz, nur das Band aus Algen leuchtete in hellerem Grün. Die Bäume am Ufer hatten lange Bärte aus Spanischem Moos. Auf der anderen Seite des Bayou standen Holzhäuser auf Backsteinpfählen, und kleine flache Boote waren an grauen, auf Stelzen aus dem Wasser ragenden Landungsstegen festgemacht.
Als er die Brücke über den Bayou überquert hatte, konnte er zwischen zwei asphaltierten Straßen wählen. Zu seiner Rechten führte eine Abzweigung zum Highway und zu den grünen Zuckerrohrfeldern, die sich bis zum Horizont erstreckten. Er wandte sich nach links in Richtung Stadt. Die Häuser rechts und links der Dayborn Avenue standen auf herkömmlichen Fundamenten, in den Vorgärten spielten Kinder, ein Fenster nach dem anderen wurde hell, als die Bewohner von der Arbeit zurückkehrten. Wenn nicht die warme Witterung und hier und da ein Bananenbaum gewesen wären, hätte er meinen können, an einem Herbsttag in einer ganz gewöhnlichen amerikanischen Kleinstadt zu sein.
Als er die Stadtmitte erreichte, änderte sich das Bild schlagartig. Der Prospekt, den er sich im Hotel hatte geben lassen, hatte nicht gelogen. Was er vor sich sah, war eine Collage der Architekturgeschichte. Der formelle Bau in georgianischem Stil am anderen Ende des Platzes musste das Rathaus sein. Die Wände waren grün gestrichen, und die Kuppel auf dem Dach ließ an ein Kapitol im Kleinformat denken.
Um den Platz herum zogen sich Reihenhäuser in italienischem Stil aus Backstein, die lila- und rosafarben, blau und gelb verputzt waren. Über den Läden im Erdgeschoss ragten zierliche schmiedeeiserne Balkone mit bunten Blumentöpfen auf die Straße.
Er ließ den Wagen vor dem Hotel ausrollen. Rechts und links standen neogotische Privathäuser, dieses mächtige Gebäude aus der Kolonialzeit aber war das älteste Haus am Platz. Das schräge Dach hatte fünf Giebel und an jedem Ende einen Schornstein. Die dunklen Schindeln breiteten sich steil nach unten bis zu den Stützen der Veranda aus.
Er brachte seine Koffer aufs Zimmer und begrüßte die Hotelbesitzerin, Betty Haie, eine weißhaarige Dame mit üppigen Körperformen und einem nicht weniger üppigen Lächeln. Nachdem er sich eingetragen und das Gepäck in seinem Zimmer untergebracht hatte, begleitete sie ihn auf die Veranda und drängte ihn sanft, sich zu den anderen Gästen zu setzen, deren Stühle am Geländer aufgereiht waren, wie die von Zuschauern bei einer Sportveranstaltung. Alle blickten nach Norden und hatten Feldstecher in der Hand.
Betty nahm ihr Fernglas vom Hals und reichte es Charles. »Wie schade, dass Sie das abendliche Fledermausrennen verpasst haben, Mr. Butler. Aber wenn Sie sich beeilen, können Sie noch den einen oder anderen der Verlierer sehen.«
Er folgte ihrem Blick hinüber zu dem dreieckigen Giebel von Augusta Trebecs Haus jenseits der fernen Bäume und stellte das Glas auf drei Fledermäuse scharf, die vom Dach aufflogen und sich dabei dunkel vor den nach Sonnenuntergang völlig farblosen Wolken abhoben.
»Und jetzt sehen Sie bitte über den Platz zum Büro des Sheriffs hinüber«, forderte Betty ihre Zuschauer auf und deutete auf die Südseite des Rathauses. Alle Köpfe drehten sich wie auf Befehl. »Sehen Sie das Licht, das eben angegangen ist? Sehen Sie das vergitterte Fenster? Dort halten sie die Frau gefangen, die Babe Laurie ermordet hat. Allerdings ist das nicht ihr Fenster. Ihr Fenster geht auf den Durchgang zwischen dem Büro des Sheriffs und der Feuerwehr hinaus.«
Sie tippte Charles auf die Schulter. »Wenn Sie Lust haben, sich morgen früh der Tour anzuschließen, können Sie sich auf dem Friedhof eine Figur ansehen, die ihr unheimlich ähnlich sieht. Die Besichtigung ist im Zimmerpreis inbegriffen.«
Charles war so verblüfft, dass er von Betty Haies weiteren Ausführungen über Frühstück und den Zeitpunkt, zu dem das Zimmer freizumachen war, nur hin und wieder ein Wort aufnahm. Dass Mallory eine Touristenattraktion geworden war, schien noch unfassbarer als die Mordanklage.
Er rutschte tiefer in seinen Korbsessel und sah zu dem Fenster über
Weitere Kostenlose Bücher