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Der steinerne Engel

Titel: Der steinerne Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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anderen Mann verunsichert. Mit jedem Satz forderte sie Informationen ein und gab ihrem Gesprächspartner keine Gelegenheit zu Gegenfragen. Doch Charles konnte das nicht erschüttern. Er war solche Verhörmethoden von Mallory gewohnt.
    »Wie lange kennen Sie Augusta schon, Mr. Butler?«
    »Wir haben uns heute Nachmittag kennen gelernt.«
    Lilith beugte sich ein wenig vor, als sie die nächste Frage stellte. »Und was genau wollen Sie bei meiner Cousine?«
    Augusta hob hinter Liliths Rücken die Hand und warf rasch ein: »Es ist nicht zu glauben! Vor noch nicht zwei Wochen hat sie den Abschluss an der Polizeihochschule gemacht, und schon nimmt sie ahnungslose Bürger ins Kreuzverhör.« Augusta sah ihre junge Verwandte tadelnd an und fuhr schnell fort: »Es geht dich zwar nichts an, Lilith, aber ich habe ihn beauftragt, eine Frau zu überprüfen, die möglicherweise die Tochter von Cass Shelley ist. Falls das stimmt, könnte ich ihr den Nachlass ihrer Mutter übergeben.«
    Augusta stand auf, und auch Charles erhob sich. Er deutete ihre Geste als ein Zeichen zum Aufbruch.
    Augusta fixierte ihre Nichte mit einem strengen Blick. »Ich bin die Testamentsvollstreckerin – falls dein Vater dir das nicht erzählt hat. Seit Cass gestorben ist, ziehe ich die Miete für das Haus ein und zahle die anfallenden Steuern, und so langsam hab ich es satt. Falls Mr. Butler feststellt, dass es sich tatsächlich um die Erbin handelt, bin ich diese lästige Aufgabe endlich los.«
    Die junge Frau nickte und wandte sich wieder an Charles. »Haben Sie eine Zulassung für den Staat …«
    »Das reicht, Lilith. Meine Angelegenheiten gehen dich nichts an.«
    Die Blicke der beiden Frauen kreuzten sich, und es war die Jüngere, die wenig später die Augen senkte. Noch hatte sie nicht genug Lebenserfahrung, um es mit ihrer Cousine aufzunehmen.
    »So, jetzt wollen Sie sich bestimmt wieder an die Arbeit machen«, sagte Augusta und streckte Charles die Hand zum Abschied hin.
    Er wünschte den beiden einen guten Abend und machte sich durch die Eichenallee auf den Rückweg. Ein Vogel kreischte hinter ihm her, weitere Vögel flogen über seinen Kopf hinweg, als er den Friedhof betrat.
    Ein dicker schwarzer Star thronte auf dem Dach eines Grabmals, legte den Kopfschief und sah ihm nach. Im Weitergehen hörte er Flügelschlagen und spürte einen Luftzug, als der Vogel auf einem Marmorstandbild landete, das so hoch war wie Charles. Er richtete seinen scharfen Schnabel auf Charles’ Gesicht und sah ihn aus kalten, reptilienartigen Augen an.
    Die Theorie, dass die Dinosaurier nicht ausgestorben sind, sondern in der heutigen Vogelwelt weiterleben, schien ihm durchaus glaubhaft. Eine Erinnerung an frühere Größe hatte sich wohl in diesem schwarzen Burschen hier erhalten, denn er schien Charles nicht als Bedrohung zu empfinden, sondern nur als ein Geschöpf, das sich Mensch nannte und noch ein rechter Grünschnabel in der Weltgeschichte war.
    Er sah zu, wie der Vogel der sinkenden Sonne entgegen flog, und in diesem Moment fiel ihm auf, dass alle Gräber und Grabmale in Ost-West-Richtung ausgerichtet waren. Vielleicht war es eine Sitte dieser Gegend, die Toten mit dem Gesicht zur Sonne, dem alten Symbol der Auferstehung, zu bestatten.
    Nur ein Grab wies nach Norden.
    Sonderbar …
    Er ging zurück zum Rand des Friedhofs und um das Grabmal herum, bis er zu einer kunstvoll geschmiedeten, rechts und links von wunderschönen bunten Glasfenstern eingerahmten Tür kam. Zuerst dachte er, dass das Grabmal aus der Kolonialzeit stammte, denn es war stark verwittert, und Risse zogen sich durch seine Wände. Dann sah er, dass es aus einem weichen, porösen Stein errichtet war. Wie unsinnig, an ein so billiges Material so viel Kunstfertigkeit zu verschwenden!
    Über der Tür entdeckte er das Basrelief eines Männergesichts. Die Nase war angeschlagen, und die steinernen Augen blickten durch eine Lücke zwischen den Bäumen auf Trebec House. Der erste über der Tür eingemeißelte Name war unleserlich, der Nachname kaum noch zu erkennen.
    Trebec?
    Ja, tatsächlich! Was würde wohl Mr. Trebec jetzt zu seinem verfallenen Herrenhaus sagen?
    Charles schlug die Richtung ein, in der er Henry Roths Haus vermutete. Dann kam ihm ein neuer Gedanke. Er wandte sich noch einmal zu dem Grab von Cass Shelley um. Der steinerne Engel wandte das Gesicht gen Süden.
    Und was betrachtete wohl diese Engelsgestalt?
    Ein Windstoß riss Blätter von den Bäumen und trieb sie zum anderen Ende

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