Der steinerne Engel
wenn sie sich dazu hätte aufraffen können, noch einmal zum Haus der Shelleys zu gehen.
Sie zog sich die Bettdecke übers Gesicht – eine kindliche Reaktion auf ihre Ängste, obgleich sie über fünfzig war. Dann stand sie auf, ging zum Kleiderschrank, verzog sich in die hinterste Ecke und machte die Tür zu.
So still sie auch saß – ihr Körper gab keine Ruhe. Er trieb ihr dicke Tränen in die Augen, schickte Säure in ihren Magen und ließ die Galle rumoren. Ein Schrei stieg in ihrer Kehle auf, und schwer lag Schuld auf ihrer Seele, wie eine Krebsgeschwulst, die ihr Angst machte und die sie nicht ansehen mochte. Und deshalb schloss sie, obgleich sie in einem dunklen Schrank saß, rasch die Augen.
Doch die Angst ließ sich nicht aufhalten. Sie überschwemmte ihr Gehirn mit hässlichen Bildern, vor denen es kein Entrinnen gab.
Auf dem Rathausplatz in Dayborn, im Haus neben dem Hotel, hörte Darlene Wooley ihren Sohn schreien. Nicht weil ihm die gebrochenen Hände wehtaten. Dagegen hatte er Tabletten bekommen.
Kathys Hund hörte auf zu heulen, und Ira hörte auf zu schreien. Ihr Sohn hatte ein Versteck in einem anderen Traum gefunden.
Sie atmete auf, denn wenn sie ins Nebenzimmer gehen, ihn aus seinem Albtraum wecken, ihn anfassen und schütteln musste, brachte die Furcht in seinen Augen sie fast um. Er stieß sie weg, wehrte sich gegen ihre Hände, lehnte jede Bekundung mütterlicher Liebe ab. Und das war das Schlimmste, weil sie ihn so innig liebte.
Sie stand am Schlafzimmerfenster und bat den Hund stumm und flehentlich, nicht mehr zu heulen. Nicht mehr heute Nacht.
Lass ihn in Ruhe. Lass meinen Sohn in Ruhe.
Es war nicht möglich, Ira zu trösten, ohne zu wissen, was ihm vor all den Jahren zugestoßen war, und das konnte er ihr nicht sagen. Seit seinem sechsten Lebensjahr hatte er sich hauptsächlich durch Musik verständigt – durch Tastengeklimper auf dem Klavier, durch Liedfetzen. Aber sie war nicht musikalisch, und so blieben Iras Gespräche einseitig.
So viele Fragen waren unbeantwortet geblieben und ließen ihr keine Ruhe. Manchmal war es Darlene, als müsse jeden Augenblick die verschwundene Cass Shelley zurückkommen, bei ihr klopfen, sich auf einen Kaffee mit ihr zusammensetzen und die dunklen Schatten über Darlenes Leben und den Inhalt von Iras Träumen mit einer sachlichen Erklärung vertreiben.
Wieder schrie ihr Sohn auf. Sie hörte ihn rumoren. Jetzt war er wach und schlug mit dem Kopf gegen das Bettgestell.
Darlene lief hinüber. Als er sie sah, hielt er mitten in der Bewegung inne und sah sie mit aufgerissenen Augen an – dem unbewussten Signal des Kindes, dass es in die Arme genommen, getröstet werden will, um seine Ängste loszuwerden. Und es war dieser Widerspruch, der sie wahnsinnig machte, denn wenn sie ihn umarmen wollte, fing er wieder an zu schreien.
Inzwischen war er erwachsen, aber klein und dünn, mit einem schmalen Gesicht, in dem die Augen besonders groß und verletzlich wirkten. Alles in ihr drängte sie, ihn in den Armen zu wiegen, aber sie verschränkte entschlossen die Hände hinter dem Rücken, um ihm zu zeigen, dass sie ihn nicht anfassen würde. Sie blieb nur vor seinem Bett stehen, bis er sich wieder sicher fühlte und einschlief und damit Kathys Hund entkam.
Lange nachdem Darlene wieder in ihr Bett zurückgekehrt war, lag sie noch wach.
Auch die Frau, die in Owltown in dem dunklen Schrank hockte, war wach. Sie hatte die Fäuste in die Augenhöhlen gepresst und versuchte, die Bilder in ihrem Kopf auszulöschen. Alma Furgueson hatte nur einen Wunsch: Sie wollte vergessen. Sie war da gewesen, sie hatte alles mit angesehen, von Anfang bis zum Ende. Aber sie hatte es genauso wenig begriffen wie Darlene Wooley, die überhaupt nichts gesehen hatte.
Lilith Beaudare verabschiedete sich von Augusta und überließ sie ihrer chronischen Schlaflosigkeit.
Sie lief durch die Eichenallee bis zum Friedhof. Dort hielt sie sich an die Rasenflächen, die den Laut ihrer Schritte schluckten. Nur wenn sie einen Weg kreuzte, hörte man den Kies knirschen. Dann war sie wieder auf einer unbefestigten Straße, rannte an Henry Roths Cottage vorbei und die Böschung hinauf. Von dort sah sie auf Dayborn hinunter, wo jenseits der Bäume die Straßenlaternen das Stadtbild nachzeichneten.
Laufen war ihre Leidenschaft, die Jagd nach dem Wolf, der kein alter, halb blinder Köter war, sondern ein geschmeidig kraftvolles Geschöpf, für das sie ihre persönliche Mythologie
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