Der steinerne Engel
geschaffen hatte. Er war die Metapher für einen Augenblick, der ihr zum Greifen nah schien, Metapher für das Starke, Ungewöhnliche, für Rilkes »Erwachen der Steine«.
Augusta hatte an diesem Abend Liliths größte Angst angesprochen. Was war, wenn sie den Wolf eingeholt hatte? Wenn sie den Augenblick nicht erkannte, war er mit dem nächsten Ruck des Uhrzeigers ein für alle Mal vorbei, und sie war zu einem öden Durchschnittsleben verurteilt.
Immer wieder legte sie sich neue Szenarien zurecht. Der Wolf dreht sich langsam um. Was jetzt?
Die Euphorie des Läufers hatte Lilith gepackt. In diesem Zustand fielen Anstrengung und Müdigkeit von ihr ab, sie spürte nicht mehr, dass ihre Füße den Boden berührten, die Erde selbst verschwand unter ihren Sohlen, und sie flog die Böschung hinunter.
Der Hund jaulte wieder auf, und Liliths Hochstimmung schwand.
Sie spürte ebenen Boden unter den Sohlen ihrer Laufschuhe, sah in das Schwarz der Bäume, die vor ihr aufragten, und fröstelte, als ein leichter Wind ihr den Schweiß von der Haut leckte.
Die Gefangene lag auf dem Rücken und sah zur Decke hinauf, an der goldene Rechtecke schwebten. Sie beobachtete das Licht-und-Schatten-Spiel einer Straßenlaterne vor ihrem Fenster.
Mallory hörte ihren Hund heulen. Der Laut erinnerte sie daran, dass sie noch nicht wieder ganz daheim war.
4
Früh um acht wurde Lilith Beaudare offiziell als Deputy Sheriff der Gemeinde St. Jude vereidigt. Ihr neuer Titel aber war »Mädel«. Das oder manchmal »Hey Mädel!« war Sheriff Tom Jessops Anrede für sie.
Eine halbe Sunde später hatte eine grauhaarige, vierschrötige Person namens Jane, Besitzerin von Jane’s Café, eine weitere Variante gefunden. »Hey, kleines Mädel«, sagte sie, »die Zelle find ich selber, da brauch ich keine Begleitung.« Mit diesen Worten war sie mit dem Frühstückstablett der Gefangenen an Lilith vorbei die Treppe hinaufgestiegen und hätte sich höchstens noch durch eine Kugel in den Rücken bremsen lassen.
Eine große Versuchung für die neue Amtsinhaberin.
Doch das war nicht die einzige Enttäuschung. Lilith starrte entsetzt den alten Apparat an, der mindestens fünfzig Jahre vor Erfindung des Tastentelefons hergestellt worden war. Dieses Polizeirevier im Miniformat war ein verdammtes Museum. Kein einziges Möbelstück stammte aus dem zwanzigsten Jahrhundert, und die Ausrüstung war fast ebenso rückständig.
Der Uraltcomputer sah so verstaubt aus wie alles andere auf ihrem Schreibtisch. Aus dem Faxgerät hatten sich zehn, zwölf Seiten herausgekringelt, und an den Daten erkannte sie, dass sich niemand um das Gerät gekümmert hatte, seit Deputy Travis im Krankenhaus lag. Offenbar war für Computer und Fax Travis zuständig gewesen. Jetzt sollte sie beides übernehmen.
Die berühmte Gefangene hatte sie noch nicht zu Gesicht bekommen. Sheriff Jessop war oben in dem kleinen Zellenblock und hatte Lilith zum Dienst an einem Telefon verdonnert, das beharrlich schwieg.
Von ihrem Schreibtisch aus sah sie auf die offen stehende Tür zum Büro des Sheriffs. Auch diesen Raum hatte die Historische Gesellschaft St. Jude nicht verschont. Der verschnörkelte Mahagonischreibtisch war Handarbeit. In Glasvitrinen hingen Flinten aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert. Die vergilbte Landkarte an der hinteren Wand war lange vor dem Bau des Deichs entstanden, als der Mississippi noch einen anderen Lauf hatte. Damals war das Land noch frei gewesen von den Chemiewerken und der den Fluss entlang stetig bis nach Baton Rouge voranschreitenden Umweltverschmutzung. Alle Häuser, die durch das Bürofenster zu sehen waren, stammten aus einer Zeit, in der die Baumwolle regiert hatte und der Bürgerkrieg noch nicht verloren war.
In Dayborn, dachte sich Lilith, schien Verdrängung an der Tagesordnung zu sein. Hier wohnten schlechte Verlierer.
Hinter dem unordentlichen Schreibtisch des Sheriffs sah man eine Anrichte, auf der sich Papiere und Bücher türmten. Ganz am Rand stand eine schwarzlederne Reisetasche, die jeden Augenblick herunterfallen konnte. Lilith erkannte das orangefarbene Schildchen, das die Tasche als Beweismittel auswies. Betty Haie, die Hotelbesitzerin, hatte sie an dem Tag, an dem Babe Laurie ermordet worden war, hier abgeliefert.
Ir- Lilith sah rasch zu der alten Treppe hin, deren Stufen ihr durch vernehmliches Knarren bestimmt verraten würden, wenn der Sheriff herunterkam. Leise betrat sie sein Büro und öffnete die Tasche. Der
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