Der steinerne Engel
einem ganz anderen Gott an.
Der Sheriff sprach mit Mallory wie mit einem unmündigen Kind.
Trottel! War der Mann denn blind?
Dann begriff sie, dass der Sheriff nicht Mallory vor sich sah, sondern die noch nicht ganz siebenjährige Kathy Shelley.
Der Sheriff nahm eine Zigarette aus der Tasche und schob sie sich zwischen die Lippen. »Jetzt erzähl uns doch mal, Kathy, wie es ist …« Ohne Eile machte er eine Streichholzschachtel auf, zündete die Zigarette an und sah dem Rauch nach, der sich zwischen den Zellenstäben hindurchschlängelte. »… wie es ist, nach so vielen Jahren wieder heimzukommen.«
»Gar nicht so übel«, sagte Mallory. »Wenn es einen nicht nervt, dass man den ganzen Tag warten muss, bis die Leute eine Satz zustande gebracht haben. Und sagen Sie nicht Kathy zu mir.«
Sheriff Jessop wandte rasch den Kopf. Er hatte Lilith entdeckt. »Was ist? Raus damit.«
»Ich habe beim FBI angerufen, Sir.« Das klang kindlich und unsicher. Mist, dachte Lilith und straffte die Schultern. Lauter setzte sie hinzu: »Sie wissen nicht, woher die Waffe stammt, aber sie arbeiten dran, Sir.«
»Wie reizend von dir, dass du dich mit so einer wertlosen Information hier heraufbemüht hast, Mädel. Jetzt sieh zu, dass du wieder auf deinen Posten kommst. Ich hab dich nicht umsonst ans Telefon gesetzt.«
Lilith biss sich auf die Lippen, um die bissige Bemerkung zurückzudrängen, die ihr auf der Zunge lag. Schon am ersten Tag gefeuert zu werden war wenig erstrebenswert. Lilith war, wie Augusta von Anfang an geargwöhnt hatte, eine ehrgeizige junge Frau.
Das Gesicht des Sheriffs war rot angelaufen – sein Frühwarnsystem für den schnell aufflammenden Jähzorn. »Worauf zum Teufel wartest du denn noch, Mädel?«
Mallory lächelte. Nicht liebenswürdig, sondern beunruhigend und voller Verachtung. Sie lehnte sich an das Gitter ihrer Zelle und starrte Lilith an. »Du solltest ihm nicht durchgehen lassen, dass er dich Mädel nennt. Höchstens, wenn du ihn Fettwanst nennen darfst.«
Der Sheriff deutete mit dem Zeigefinger auf seine Stellvertreterin. »Ab mit dir, Mädel. Dalli!«
Lilith schlug die Tür hinter sich zu und stürmte, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinunter.
Unten sah sie sich einer Frau mittleren Alters gegenüber. Sie trug ein graues Kostüm, hatte einen zornigen Blick und Haltungsprobleme, fuchtelte mit ausgestrecktem Finger in der Luft herum wie mit einer Kanone und schrie auf die frisch gebackene Stellvertreterin des Sheriffs ein.
Hinter ihr stand ein magerer junger Mann, der etwa in Liliths Alter sein mochte. Er hatte, wie die fuchtelnde Frau, haselnussbraune Augen mit dichten Wimpern und hellbraunes Haar. Sein Gesichtsausdruck war ganz friedlich. Zu friedlich. Beide Hände steckten in dicken Verbänden.
Stand er vielleicht unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln?
Dann fing er an, eine Hand langsam um die andere zu drehen, und diese einfache Tätigkeit schien ihn vollauf in Anspruch zu nehmen.
Dich kenne ich doch …?
Ja. Er trug nach wie vor die roten Socken, die sein Markenzeichen gewesen waren, und ein ordentlich in die Jeans gestecktes rotes Hemd. In der harmlos-unschuldigen Miene und der vertrauten Angewohnheit des Händedrehens fand sie noch viel von dem Kind wieder, das sie gekannt hatte. Die anderen Kinder hatten »Idiot« zu ihm gesagt, und als Sechsjährige war sie der Meinung gewesen, so hieße er. Ihr Vater hatte sie zurechtgewiesen und sie kräftig versohlt, damit sie ein für alle Mal lernte, den Jungen mit seinem richtigen Namen anzureden.
»Hallo, Ira«, sagte Lilith. »Wie geht’s?«
Diese kleine Geste hatte die aufgeregte Frau beschwichtigt. Ein Lächeln ging über ihr Gesicht, das fast hübsch wirkte, als sie sich ihrem Sohn zuwandte. »Sag der Stellvertreterin vom Sheriff guten Tag, Ira.«
»Sag der Stellvertreterin vom Sheriff guten Tag«, wiederholte Ira.
5
Charles Butler betrachtete die Auslagen im Schaufenster des Drugstores. Stapelweise türmten sich hier T-Shirts in vielen Farben, auf denen Name und Bild des ermordeten Erweckungspredigers prangten. Für eine andere Serie hatte sich der Künstler die Jungfrau Maria einfallen lassen, die ein Kind mit dem Gesicht des erwachsenen Babe Laurie in den Armen hielt. Hinter diesen ketzerischen Produkten sah man einen Ständer mit Taschenbüchern und Regale, die mit Sonnenbrillen und Zahnseide voll gepackt waren, mit Zahnbürsten und Voodoo-Püppchen in Zellophanhüllen – kurz, mit allem, was Touristen gern
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