Der steinerne Engel
Smith-&-Wesson-Revolver, Kaliber.357, lag in einer Plastiktüte, obgleich in ihrem Handbuch für Polizeibeamte klar und deutlich stand, dass Papier der beste Schutz für Fingerabdrücke auf glatten Oberflächen war. Sie schüttelte den Kopf. Um die ältere Generation war es wirklich traurig bestellt.
Jetzt nahm sie sich die Kleidung vor. Die Laufschuhe waren beste Qualität, und die Jeans hatten ein Designeretikett auf der Tasche. Der Blazer schien maßgeschneidert zu sein, aber an der Stelle, wo das Herstelleretikett hätte sein müssen, fand sich nur ein Rechteck kleiner Löcher. Bis auf die seidene Unterwäsche waren in der Tasche keine persönlichen Gegenstände, nichts, was auf Namen oder Herkunft der Gefangenen hätte schließen lassen.
Im Seitenfach fand sie eine Hand voll Kabel und ein metallenes Kästchen von der Größe einer Zigarettenschachtel. An einer Seite steckte ein Silberstift zur Bedienung eines Minikeyboards, aber ein Palm-Computer konnte es nicht sein. Allerdings waren unten Computeranschlüsse. Vielleicht ein Zusatzteil für den Laptop, der im nächsten Fach steckte? Sie zog ihn heraus und schaltete ihn ein, aber als sie probierte, eine Datei zu öffnen, wurde der Schirm dunkel, sodass sie nicht einmal den Versuch machen konnte, das Passwort zu knacken.
Pfiffig gemacht.
Die Gefangene verstand sich also auf Computer, schätzte Waffen mit durchschlagender Wirkung, kaufte in Geschäften, die für einen Deputy Sheriff zu teuer waren, und hatte sich große Mühe gegeben, ihre Identität zu verschleiern.
Lilith steckte alles wieder in die Tasche und ging zurück an ihren Schreibtisch. Punkt neun rief sie weisungsgemäß beim FBI an, um zu fragen, ob man bei dem Versuch, über die Seriennummer den Besitzer der Waffe zu ermitteln, schon weitergekommen sei. Der FBI-Agent antwortete mit einem schlichten Nein. Ein paar Sekunden war Sendepause, dann fragte Lilith, ob sie bei dem Vergleich mit einer Testpatrone schon Erfolg gehabt hätten. Wieder war die Antwort nur ein Nein, gefolgt von einem abwimmelnden »Wir melden uns wieder!« Unter dem Vorwand, diese absolut wertlose Information weiterzugeben, stieg sie die Treppe zu den drei Zellen hinauf, von denen nur eine belegt war.
An der Tür, die zu dem Zellentrakt führte, zögerte sie einen Augenblick und öffnete sie dann vorsichtig, damit sie nicht quietschte. Der Sheriff schien gegen dieses Geräusch allergisch zu sein, denn als heute früh ihr Drehstuhl gequietscht hatte, war er sofort mit einem Ölkännchen herbeigeeilt und hatte Anweisungen geblafft, als ob er eine Hilfsschülerin vor sich hätte.
Aus ihrer Kindheit in Dayborn konnte sie sich an den Sheriff nicht mehr erinnern. Der freundschaftliche Verkehr zwischen ihm und ihrem Vater hatte sich hauptsächlich am Tresen abgespielt. Doch war das entschieden nicht mehr jener Tom Jessop, den ihr Vater, der Geschichtenerzähler, der Mythenerschaffer, als überlebensgroß geschildert hatte, als einen Mann mit blauen Augen, die so hell strahlten wie heranbrausende Scheinwerfer.
Sheriff Jessop schien inzwischen geschrumpft – oder einfach ein ganz gewöhnlicher Mensch geworden zu sein. Es war nicht die einzige Erinnerung, die sich in den Jahren, seit die Familie von hier weggezogen war, ganz und gar verändert hatte.
Der Sheriff stand auf dem schmalen Gang vor der mittleren Zelle. Sein Bauch hing über den Gürtel, und das einst dichte schwarze Haar war ergraut und schütter geworden. Die meist durch den Stetson geschützte Stirn sah weiß aus, Nase und Wangen waren sonnenverbrannt.
Jetzt trat Tom Jessop einen Schritt zurück und lehnte sich an die Wand, sodass Lilith die Gefangene sehen konnte, die sich Mallory nannte. Sie trug einen Baumwollkittel, auf dessen Tasche die Aufschrift STADTGEFÄNGNIS ST. JUDE prangte.
Lilith schnappte nach Luft.
Die Frau, die sie vor sich sah, war der lebendig gewordene steinerne Engel. Rotblonde Locken reichten ihr bis zu den Schultern. Es sah aus, als ob die blonde Aureole das Licht aus allen Winkeln der kleinen Zelle ansaugte und immer heller wurde. Die Augen waren von einem fast unnatürlichen Grün, der Blick war konzentriert wie der eines Raubtiers, das sich an seine Beute anschleicht, und richtete sich auf Lilith. Doch dann ließ Mallorys Blick sie wieder los. Das Raubtier war offenbar nicht hungrig genug. Noch nicht.
Trotz der Gitterstäbe ging Liliths Hand instinktiv zum Holster, denn diese Frau hatte nichts mit dem steinernen Engel gemein. Sie gehörte
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