Der steinerne Engel
über die Deichkrone?«
»Nein, ich reite überhaupt nicht mehr.« Das klang ungewohnt niedergeschlagen. »Vor ein paar Jahren bin ich böse gestürzt und habe mir ein Bein gebrochen. Es hat ewig gedauert, bis es wieder geheilt war, und so was kann ich mir nicht mehr leisten, dafür ist mir die Zeit zu kostbar.«
Lautes Geheul hallte plötzlich durch die Nacht. Lilith schnappte nach Luft und setzte sich mit einem Ruck auf. »Das war der Wolf.«
»Komm, hör auf, Lilith!« Die rote Glut der Zigarre fuhr ungeduldig durch die Luft. »Für dieses Spiel bist du jetzt wirklich zu alt.«
»Ich kenne das Geheul.« Es war die eindrucksvollste Erinnerung an ihre frühen Kindertage in Dayborn. »Das war Daddys Wolf.«
»Unfug. Es ist nur ein alter Hund.« In Augustas Stimme schwang ein resigniertes Lächeln. »Dein Vater hat dich mit dieser Geschichte auf den Arm genommen, und das weißt du auch.«
In jener Kammer ihres Gehirns, in dem Lilith ihre pragmatischen Erkenntnisse verwahrte, wusste sie, dass der Vater den Wolf für sie erfunden hatte. Aber es gab da noch eine andere Kammer, in die sie die Geschenke ihres Vaters gepackt hatte, seinen blind-poetischen Glauben an Dinge, die man nicht sehen konnte, und die Macht dieses Glaubens.
»Hier in der Gegend hat es nie Wölfe gegeben«, erklärte Augusta.
Lilith wusste, dass dies stimmte, aber in jener Kammer hörte sie die sanfte Stimme ihres Vaters:» Wenn du es schaffst, diesen Wolf zu fangen, Lil, wird er dein Leben unendlich bereichern.«
Augusta sagte, als wollte sie gegen diese innere Stimme angehen: »Dieses Märchen hat er dir nur aufgetischt, weil er eine Superleichtathletin aus dir machen wollte.«
»Wenn du ihn fängst, wenn dieser Augenblick da ist, wird sich dein
Leben verändern.«
»Was bist du gerannt, um den Wolf zu sehen!«
»Hörst du ihn heulen, Lil? Ist er nicht großartig?«
»Dabei war es immer nur Kathys Hund«, fuhr Augusta fort. »Genau wie jetzt auch.«
Tatsächlich hörte sich das Geheul an wie eine Totenklage, die in traurigem Gewimmer endete. Der Hund weinte.
»Aber der kann doch nicht mehr am Leben sein. Da wäre er ja über zwanzig Jahre alt.« Lilith hatte sich den Glauben an ein geflügeltes Pferd und einen noch nie gesehenen Wolf bewahrt, aber dass ein ganz gewöhnlicher Hund nach menschlichen Maßstäben über hundert Jahre alt werden konnte – das mochte sie nicht glauben.
»Ja, für einen Hund ist es ein unwahrscheinliches Alter.« Augusta blies einen makellosen Rauchring in die Luft. »Wenn ich das Haus von Cass vermietet habe, habe ich immer die alte Geschichte von dem Mord erzählt und dass der Hund solche Sehnsucht nach der kleinen Kathy hat. Die Mieter waren keine Spielverderber, sie haben ihn sogar gefüttert, aber nach einer Weile haben sie gemerkt, dass der Hund verrückt ist, und das Haus stand wieder leer.«
Lilith wandte sich ab. Ihr war der Wolf ihres Vaters lieber als ein halb toter Hund, der im Garten des Shelley-Hauses herumgeisterte.
Augustas Stimme drängte sich in ihre Gedanken. »Einen Wolf soll man nicht jagen, Lilith. Hast du schon mal überlegt, was du machst, wenn du ihn eingeholt hast?«
Der Hinterlauf des alten schwarzen Köters zuckte, während er im Traum neben dem flachshaarigen Kind mit den grünen Augen herrannte. Als das gewalttätige Ende des Traums nahte, stöhnte er auf und rollte sich auf der Erde herum, sodass im Mondlicht alle seine Narben zu sehen waren. Der Schmerz alter Wunden weckte ihn, und er nahm wieder die wirkliche Welt um sich herum wahr.
Er war allein.
Sein Kopf senkte sich, und wieder stieg sein Geheul gen Himmel. Es war eine der seltenen Witterungsphasen, in denen der Wind seine Nachtmusik in alle Richtungen trieb, sogar nach Owltown.
Am Rande von Dayborn lag sein nicht anerkannter Ableger, eine halbmondförmige Ansammlung von Bruchbuden und aufgeblockten Wohnwagen, eine Hauptstraße mit Neonlichtern, die die ganze Nacht hindurch brannten, und Betrunkenen, die sich erst in der Morgendämmerung in irgendeine Ecke fallen ließen. Die Siedlung war ganz offiziell Teil von Dayborn, auch wenn die älteren Einwohner das nicht wahrhaben wollten.
Wenn es sich nicht vermeiden ließ, dass sie den Schandfleck am Bayou erwähnten, nannten sie ihn Owltown – die Eulenstadt.
Alma Furgueson setzte sich im Bett auf und horchte auf die Stimme des Hundes. Warum erlöste nicht irgendjemand diesen irren Köter von seinem Elend – und sie gleich mit? Sie hätte es selbst getan,
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