Der steinerne Engel
traute ihr ohne weiteres zu, dass sie sich Zugang zum Computer des örtlichen Elektrizitätswerks verschafft hatte. Es war die nächstliegende Erklärung für Ort und Zeit des Stromausfalls – und dafür, dass Henry Roth gerade in diesem Moment im Zelt aufgetaucht war.
Die Lauries standen also nicht nur auf den Listen von Henry und Sheriff Tom Jessop, sondern auch Mallory hatte sie im Visier. Eine würdige Gegenspielerin für eine Familie von Wanderpredigern – Unsere Liebe Frau vom Cyberspace. Was sie getan hatte, war im Grunde unverantwortlich. Es hätte Menschen im Zelt das Leben kosten können.
Vor den hohen Bäumen blieb Charles stehen und sah sich um. Die Scheinwerferkegel beleuchteten die flüchtende Menge. Henry zupfte ihn erneut am Ärmel, und sie gingen weiter. Am Brunnen auf dem Marktplatz von Dayborn wurde Henry langsamer. Nachdem sie den Marktplatz überquert hatten, verlöschten hinter ihnen alle Straßenlaternen und das Licht in den Fenstern der Häuser, und Charles hatte das unbehagliche Gefühl, irgendwie daran schuld zu sein.
Als sie über der Brücke waren, gingen die Lichter wieder an, und in Owltown fingen sämtliche Telefone an zu läuten. Sie hörten nicht auf, bis die Besucher der Babe-Laurie-Gedächtnisshow nach Hause gekommen waren und abhoben. Es war fast, als hätten die Telefone die Menschen in ihre Häuser und Wohnwagen zurückgerufen.
»Armer Malcolm«, meinte Charles. »Die Kollektenteller sind nicht über die erste Reihe hinausgekommen.«
Henry grinste. »Dann hat er nicht mal die Kosten für den Aufbau des Zelts hereinbekommen. In der ersten Reihe sitzen nur Familienmitglieder.«
Malcolm baute also auf den Herdeninstinkt: Die Mitglieder des Familienclans legten ihr Geld auf die Sammelteller, alle anderen taten es ihnen nach.
Im Wald hinter der Brücke fiel ein Schuss. Henry sagte ungerührt: »Das ist nur Fred Laurie, der schießt wieder mal Eulen. Ich hab ihn in den Wald gehen sehen. Vielleicht ist es auch Augusta, die auf Fred Laurie schießt. Es ist nicht ratsam, sich an ihren Eulen zu vergreifen.«
Fred Laurie betrachtete forschend jeden dunklen Gegenstand, der sich bewegte. Er hob die Flinte und drückte erneut ab. Als er sich näher herangeschlichen hatte, erkannte er, dass er noch ein Blatt direkt ins Herz getroffen hatte – das dritte, während seine Brüder in Owltown die Menge hypnotisierten.
Jane’s Café hatte sich als ergiebige Informationsquelle erwiesen. In einem Gespräch hatte er aufgeschnappt, dass der Sheriff Jane verboten hatte, der Gefangenen das Abendessen in die Zelle zu bringen; ihr Mittagessen hatte sie nicht angerührt. »Der Sheriff«, hatte Jane zu Betty Haie gesagt, »wird auch immer knickriger, und dieses junge Ding, das sie ihm als neuen Deputy geschickt haben, hat mir nicht in die Augen sehen können, als ich gefragt hab, ob irgendwas nicht stimmt.«
»Dir kann man eben nichts vormachen, Jane«, hatte Betty geantwortet. »Vielleicht hätte Tom Jessop dich zu seiner Stellvertreterin machen sollen.«
Dann hatte der Briefträger erzählt, dass der Sheriff den ganzen Tag in der Gegend herumgefahren sei und vom Fenster seines Wagens aus jeden Baum angeguckt hätte. Vorher aber, in aller Frühe, sei er wie ein Verrückter zu dem Haus von Cass Shelley gebrettert.
Die Gefangene war verschwunden, das war in Jane’s Café inzwischen allen klar. »Genau wie ihre Mutter«, hatte Jane gesagt.
Im Haus ihrer Mutter hatte Fred die Tochter erfolglos gesucht. In den Sumpf am Finger Bayou wäre sie nicht gegangen, im Dunkeln fand sich dort nur Augusta zurecht. Sie musste sich hier im Wald rumtreiben.
Er kam an eine Lichtung und blieb stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Wäre er nicht über das in eine Plane eingewickelte, unter Zweigen verborgene Bündel gestolpert, hätte er den Hund nicht gefunden. Er riss noch ein Streichholz an und hielt es an einen hohlen Baumstamm. Aus der Öffnung ragte schwarzes Leder heraus. Das war die Reisetasche, die drei Tage lang im Büro des Sheriffs gestanden hatte, und diese Tasche gehörte ebenso zu Mallory wie der verdammte Köter.
Fred Laurie blies das Streichholz aus. Schritte? Ja, jemand kam auf ihn zu.
Rasch legte er die Zweige wieder über den toten Hund und zog sich in den Wald zurück. Er hängte die Flinte über die Schulter, griff nach einem Ast und zog sich in das dichte Laub zurück, ehe die Frau auf die Lichtung trat.
Sie ging leicht wie ein Reh; hin und wieder blieb sie stehen und horchte, wie
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