Der steinerne Engel
verstehen«, sagte der Mann aus Maine, den nach wie vor das verfallene Herrenhaus beschäftigte. »Aber wenn sie reich ist, hält sie doch nichts hier. Warum zieht sie nicht weg?«
»Augusta geht hier erst weg, wenn das Haus zusammengefallen ist. Sie könnte es natürlich anzünden, aber das findet sie unsportlich.«
Der Mann aus Maine sah sie fassungslos an. »Soll das heißen, dass sie …«
»Haben Sie hier Treibsand?«
»Nein, Mr. Porter. In den Sümpfen finden sich zwar ab und an tiefere Stellen, aber auch die geben früher oder später die Leiche frei. Und in den Sümpfen kennt sich sowieso nur ein Cajun aus – oder Augusta. Sie ist sozusagen ein Cajun ehrenhalber.«
Jetzt hatten alle Teilnehmer der Führung die Feldstecher auf das oberste Fenster von Trebec House gerichtet. Eine magere Frau aus Kalifornien schüttelte betrübt den Kopf. »Wenn diese verrückte Frau gestorben ist, wird ja hoffentlich die Historische Gesellschaft das Haus restaurieren.«
»Das wäre viel zu teuer«, sagte Betty. »Die Gesellschaft hat ausdrücklich auf alle Rechte verzichtet, als Augusta auf dem Gelände ein Vogelschutzgebiet einrichten wollte. Und die Ornithologen geben keinen Cent für Trebec House aus, die sehen in aller Ruhe zu, wie es verfällt. Das ist die Abmachung, die sie mit Augusta getroffen haben.«
»Und was ist Ihrer Meinung nach aus der Leiche geworden?«
»Tja, das wird wohl ein Geheimnis bleiben, Mr. Porter …« Und allzu scharf auf eine Lösung war Betty Haie gar nicht, denn bisher konnte sie von den Vogelliebhabern, den Amateurdetektiven und den Teilnehmern der von der Neuen Kirche veranstalteten Seminare recht gut leben.
»Wenn man nun eine Leiche im Sumpf deponieren würde …«
»Was hier in die Erde gesenkt wird, erscheint wieder an der Oberfläche, Mr. Porter. Ich zeige Ihnen gleich, was ich meine.«
Sie führte ihre Gruppe durch den Baumgürtel auf den Friedhof. »Normalerweise bestatten wir unsere Toten oberirdisch. Wenn wir sie eingraben, kommen sie doch nur wieder hoch, egal, wie viele Steine man in die Särge legt. Einige Tote wurden hier auf traditionelle Art bestattet. Sehen Sie die schweren Betonplatten? Mit denen wird der Sarg unten gehalten.«
»Wäre es nicht möglich, dass sich zumindest ein Alligator im Bayou versteckt hat?«, fragte Mr. Porter hoffnungsvoll.
»Nein, bedaure. Ich kann Ihnen allenfalls etwas Ähnliches bieten – nämlich Augusta. Wenn sie lächelt, sieht man die Ähnlichkeit sofort, und hat man es sich mit ihr verscherzt, kriegt sie einen ganz kalten, toten Blick, genau wie ein Alligator. Übrigens ist es gefährlich, sich einem toten Reptil zu nähern; es kann noch zwei Stunden nachher zubeißen. Wenn Augusta mal gestorben ist, hab ich mir vorgenommen, ein paar Stunden später zur Beerdigung zu gehen.«
»Aber mal angenommen, es war ein Alligator da …«
Betty lächelte gequält. »Cass Shelley ist damals etwa zu dieser Jahreszeit gestorben. Da halten die Alligatoren ihre Winterruhe. Ist damit das Thema erledigt, Mr. Porter?«
Sie deutete auf die Steinfigur, die alle anderen Grabmale überragte. »Das ist die Rückseite des Engels, der Cass Shelley, Gott sei ihrer Seele gnädig, wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Und das kleine Mädchen, das die Figur im Arm hält? Das ist Kathy. Sie ist in die Heimat zurückgekehrt und hat Babe Laurie getötet.«
Die ersten Teilnehmer der Führung hatten sich schon vor dem Engel aufgestellt. Betty bildete die Nachhut. »Wenn Sie bitte näher zusammenrücken würden. Ja, wie gesagt, das kleine Mädchen in den Armen des Engels …«
»Welches kleine Mädchen?« Die Frau aus Kalifornien sah zu dem Engel hoch.
»Das kleine Mädchen in seinen Armen …« Ganz schön bescheuert, die Leute im Norden. Idioten müsste das Reisen verboten werden. »Später gehe ich mit Ihnen zum Büro des Sheriffs und zeige Ihnen ihre Zelle.« Dass die Gefangene geflüchtet war, brauchte man ihnen ja nicht auf die Nase zu binden, vielleicht reisten sonst einige ab. »Vielleicht kommt sie sogar ans Fenster. Sehen Sie sich also das kleine Mädchen genau an.«
»Was für ein kleines Mädchen?«, fragte der vernünftige Mann aus Maine.
Betty ging um die Figur herum, um ihnen das kleine Mädchen zu zeigen, das eigentlich jeder, der nicht gerade stockblind war, erkennen musste.
Doch das steinerne Kind war verschwunden.
Die Engelsfigur stand allein auf ihrem Sockel, hatte den Blick gesenkt und sah auf ihre leeren Arme herunter.
»Großer
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