Der steinerne Engel
einem Kleidersack betrat den Friedhof. Er starrte den Engel an und schlurfte auf seinen übergroßen Schuhen näher.
»Sie weint, Jimmy.« Alma streckte eine Hand nach ihm aus. »Komm, bete mit mir, Jimmy. Wir wollen sie um Verzeihung bitten.«
»Den Jungen hab ich schon mal gesehen«, sagte Charles. »Er war bei dem Gedenkgottesdienst im Zelt. Kennen Sie ihn?« Er sah, wie Henry den Namen Jimmy Simms auf seine Liste setzte. Dann schob der Bildhauer das Notizbuch in die Tasche, um antworten zu können.
»Er ist so eine Art Mädchen für alles - Typen wie ihn gibt es in jeder Stadt -, der kleine Aufträge erledigt, Fenster putzt und Böden sandet. Meist aber lungert er nur herum und wartet darauf, dass es Abend wird.«
»Ein Obdachloser?«
»Nein, der Sheriff hat ihm eine Kammer hinter der Bibliothek zugewiesen. Ich glaube, er putzt dort, weil er keine Miete zahlen kann.«
Beim Anblick von Jimmy Simms musste Charles an Ira denken: Beide waren ausgegrenzt, waren Randfiguren in einer ihnen fremden Welt.
Alma bat den jungen Mann nochmals, mit ihr ein Bußgebet zu sprechen. Er wirkte wie ein Kind in seinen viel zu großen Sachen und mit dem verwirrten Gesichtsausdruck - ein Kind, das man gerade brutal geschlagen hat. Und jetzt machte er das, was alle Kinder tun, wenn ihnen himmelangst wird: Er rannte weg.
Und Charles fühlte sich sehr elend.
Alma rutschte ein Stück auf den Knien hinter ihm her, dann rappelte sie sich auf, ging taumelnd zu dem Engel zurück und fiel hin.
Was hatte er mit ihr gemacht? Charles wollte gerade zu ihr gehen, als Henry sich ihm kopfschüttelnd in den Weg stellte.
»Was soll denn das?«, fragte eine vertraute Stimme.
Riker?
Charles führ herum und starrte seinen alten Freund an, der sichtlich beunruhigt die hingestreckte Frau betrachtete. »Irgendetwas sagt mir, dass du von Mallory schlechte Gewohnheiten übernommen hast, Charles.«
Schweigend sahen sie zu, wie die Frau sich mühsam erhob und ziellos, schluchzend und mit ausgestreckten Armen um ihr Gleichgewicht kämpfend, durch die Gräberstadt torkelte.
Riker wandte Henry Roth den Rücken zu und sagte leise zu Charles: »Ich hab dem Sheriff gesagt, dass ich nie von dir oder Mallory gehört habe. Spielt der Kleine da mit?«
Demnach hatte Riker sie schon eine Weile beobachtet und hielt Henry, der sich in der Gebärdensprache verständigte, auch für taub. Charles klärte ihn nicht auf. »Henry ist ein alter Freund von Mallory«, sagte er. »Er würde nichts tun, was ...«
»Gut.« Riker nahm Charles beim Arm und führte ihn zu dem Engel hinüber, der bei dem Beschuss ein Ohr und eine Flügelspitze eingebüßt hatte.
»So eine Schande!« Charles sah Henry an. »Die Figur war eine wunderbare Arbeit.«
»Mir haben besonders die Tränen imponiert«, sagte Riker und betrachtete die feuchten Augen der Engelsfigur. »Ich kenne einen Typ in So Hu, der auf weinende Heiligenbilder spezialisiert ist. Zwei Dollar pro Wunder. Womit habt ihr es gemacht? Kalziumchlorid?«
»Nein, das wäre viel zu kompliziert. Meine Geheimwaffe ist Rinderfett. In der richtigen Mischung wird es in der ersten Stunde nach Sonnenaufgang flüssig.«
»Die Zeit war also auf die Führung abgestimmt?« Riker wandte sich um und sah, dass Alma am Rand des Friedhofs wieder hingefallen war. Diesmal stand sie nicht auf, sondern kroch auf allen vieren weiter. »Sehr eindrucksvoll, aber eine Kugel wäre schneller gewesen - und eine saubere Sache.«
Charles steckte die Hände tief in die Taschen und senkte den Kopf. Riker sollte nicht sehen, was er dachte. Er starrte auf die Erde, als erwarte er von dort die Erlösung.
»Verstehe«, sagte Riker, und das klang fast, als wollte er ihn trösten. »Du kannst nichts dafür. Eine gewisse blonde Teufelin hat dich angestiftet, stimmt's? Und wo steckt unsere kleine Fürstin der Finsternis?«
»Ich weiß es nicht, Riker. So weit würde sie mich nie ins Vertrauen ziehen.« Jetzt hob er den Kopf, und Riker sah, dass er die Wahrheit sagte.
»Aber du kannst ihr eine Nachricht zukommen lassen, oder?« Riker grinste, als Charles rasch den Kopf abwandte und keine Antwort gab. »Ich muss sie sprechen, und zwar so schnell wie möglich. Sie hatte es offenbar sehr eilig, sich aus staatlichen Dateien zu bedienen, und hat deshalb schlampig gearbeitet. Die Feds haben ihre Spuren in einem streng geheimen Computer gefunden. Die Sache fällt in die Zuständigkeit des FBI, aber sie sind bereit, einen Deal zu machen.«
»Du weißt doch, wie
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