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Der steinerne Engel

Titel: Der steinerne Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carol O'Connell
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hat ihn zum Sprechen gezwungen, und das ist sicher nicht einfach für ihn. Ich muss ihn so weit bringen, dass er sich eine Weile voll konzentriert, aber ich werde nichts tun, was nicht auch Cass getan hätte. Der Direktor meinte, ich sollte ihn auf eine traumatische Erfahrung ansprechen, den gewaltsamen Tod seiner behandelnden Ärztin zum Beispiel. Darüber wird er mit mir nur sprechen, um es hinter sich zu bringen und mich loszuwerden, aber wichtig ist nur, dass er überhaupt spricht. Ich brauche nur ein paar direkte Antworten auf direkte Fragen. Damit wären die Bedingungen des Instituts schon erfüllt.«
    Unter der Folter, dachte Charles bei sich, spricht früher oder später jeder. Da Ira so panische Angst vor jeder Berührung hatte, war das, was er vorhatte, sehr grausam.
    Darlene Wooley nickte. Sie schien wieder Hoffnung zu schöpfen. »Aber das Sprechen hatte er schon vorher aufgegeben. Nachdem er in dem Zelt beim Wunderheiler gewesen war. Cass war außer sich, als sie erfuhr, dass sein Vater mit ihm zu so einer abartigen Veranstaltung gegangen war.«
    Es war vernünftiger, Darlene zu verschweigen, dass Ira höchstwahrscheinlich den Mord mit angesehen hatte - darüber war sich Charles mit dem Sheriff einig. Andererseits war es wichtig, dass der Junge sich diese schreckliche Erfahrung von der Seele redete. Das hätte schon längst geschehen müssen.
    »Der Tod einer vertrauten Person ist ein schweres Trauma, aber ich könnte auch noch etwas anderes versuchen. Ein Jahr nach Cass Shelleys Tod hat Ira, wenn ich recht unterrichtet bin, seinen Vater verloren. Das muss ihn schwer getroffen haben.«
    »Eigentlich nicht. In dem letzten Jahr hatte sich sein Vater kaum mehr um ihn gekümmert. Er ist mit Ira zu einem Arzt in New Orleans gefahren, der hat es mit einer Vitamintherapie versucht, und als das nichts half, hat mein Mann wohl jede Hoffnung aufgegeben. Er hat einfach resigniert.«
    »Und Sie? Haben Sie die Hoffnung auch aufgegeben?«
    »Nein, ich ...«Sie sah auf ihre geballten Fäuste, die im Schoß lagen. »Sie müssen ihn anfassen, nicht wahr? Cass hat es so getan. Wissen Sie, dass ihm das körperlich wehtut? Er kann es nicht ertragen.«
    »Ich weiß. Es ist Ihre Entscheidung.«
    Darlene schüttelte den Kopf, aber es war eher eine Geste der Unentschlossenheit als der Verneinung. »Er ist glücklich in seiner eigenen Welt. Ich habe nicht den Eindruck, dass ihm unsere sehr gefällt.«
    »Möglich, dass er nie ganz begreift, dass er ...«
    »...menschlich ist?« Es sah aus, als machte sie sich auf einen Streit gefasst. Oder zumindest einen Vorwurf.
    »Er war immer so. Ich glaube nicht, dass Ira blind für seine
    Umgebung ist, er erlebt den Alltag nur intensiver als wir. Er erfasst nicht nur unsere Welt, sondern das ganze Universum, und das droht ihn zu überfordern. Ab und zu muss er abschalten, sonst könnte er das alles nicht aushalten. Und das weiß er. Ira ist ein sehr komplizierter Mensch.«
    Und wegen seiner Talente und seiner eigenwilligen Weltsicht auch ein sehr wertvoller, dachte Charles.
    »Die Therapie, in der Sie ihn jetzt untergebracht haben, ist auf geistig Behinderte zugeschnitten«, sagte er zu Darlene. »Er macht auch dort gewisse Fortschritte, wird aber sehr schnell an Grenzen stoßen.« Er holte die Formulare des Dallheim-Instituts heraus. »Vielleicht könnten Sie schon mal die nötigen Angaben zur Krankengeschichte machen. Inzwischen spreche ich mit Ira. Einen Versuch ist es allemal wert.«
    Aus Iras Zimmer kam Gesang. Charles erkannte die Arie, die der Junge auf dem Friedhof gesungen hatte. Darlene legte die Hand auf die Klinke, zögerte und freute sich noch einen Augenblick an der schönen Stimme ihres rätselhaften Kindes. Dann öffnete sie die Tür, und Ira verstummte erschrocken.
     
    Die Tür schloss sich, und Ira war allein mit dem großen Sandwichmann. Der setzte sich aufs Bett und redete eine Weile leise auf ihn ein. Ira wiegte sich in der Hocke vor und zurück, ohne zuzuhören.
    Dann stand der Mann auf und kam auf ihn zu.
    Nein! Bitte nicht!
    Ira wich bis an die Wand zurück. Der Sandwichmann packte ihn bei den Schultern und wiederholte die Worte, bis sie einen Sinn bekamen und sich in Iras Kopf einnisteten. Er benutzte die gleichen Worte wie Dr. Cass.
    Jetzt sah er das Gesicht von Cass vor sich, sah, wie sie ihn bei den Schultern packte, ihn bedrängte: » Sag einmal etwas, das Hand und Fuß hat, etwas, hinter dem du stehst. Nur einmal. Nur für mich.«
    »Ich habe Angst«, sagte

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