Der steinerne Engel
die ganze Nacht gefeiert, er und Liliths Vater. Gegen Morgen hatte Guy Beaudare angefangen zu weinen, weil ihm erst in diesem Moment so richtig klar geworden war, dass das Universum, vom Urknall bis zum letzten Abendstern, alle Kräfte aufgewendet hatte, um die schöne, die vollkommene Lilith zu erschaffen. Ein betrunkener junger Tom Jessop hatte heftig widersprochen, denn Kathy Shelley war schon ein paar Jahre länger auf der Welt.
»Die Kumpels in der Bar haben alle aufgeatmet, als dein Vater weggezogen ist. Ständig erzählte er von deinen neuesten Heldentaten, wir konnten es schon nicht mehr hören. Und ich habe noch keinen Mann gesehen, der so viele Fotos von seinem Kind in der Brieftasche herumgeschleppt hat.«
Er verschwieg, dass er Guy jedes Mal Paroli geboten, jedes »Lilith ist so gescheit« mit einem »Kathy ist gescheiter« gekontert hatte. Und dann war Kathy verschwunden, und der Sheriff mochte Guys Geschichten nicht mehr hören. Er trank nun allein und mied jedes Gespräch mit Männern, die Kinder hatten, weil er glaubte, dass Kathy tot war.
Sie näherten sich der Brücke, als Lilith sagte: »Wen soll ich beschatten, wenn die beiden sich trennen - Henry Roth oder Charles Butler?«
»Weder noch. Ich hab einen anderen Auftrag für dich.«
Im Osten wurde der Himmel heller, flammende Wolken zogen als Vorhut der Sonne herauf. Ein Eichelhäher erwachte, sah einen appetitlichen Käfer und verschlang das zappelnde Insekt bei lebendigem Leib. Am Himmel kreiste ein Habicht, der nach Gründlingen Ausschau hielt. Alle Geschöpfe, die in St. Jude Parish erwachten, waren in Bewegung, um nach Futter zu suchen oder einem plötzlichen Tod zu entkommen.
Ein neuer Tag begann.
18
Die Luft war abgestanden, und Licht kam nur durch die Löcher in dem morschen Stoff, der vor den Fenstern hing. Mallory zog die schweren Samtvorhänge zur Seite und öffnete das Schiebefenster. Ein kalter Windzug wirbelte eine Staubwolke auf. Jetzt sah sie in dem breiten Sonnenstreifen deutlich die Fledermauslosungen auf dem Boden und die Insekten, die sich in den dunklen Ecken in Sicherheit brachten.
Mallorys heftige Abneigung gegen Schmutz und Unordnung war in den oberen Stockwerken von Trebec House gedämpft worden. Auch ihr Pünktlichkeitswahn verlor sich allmählich. Sie hatte es sich abgewöhnt, zehnmal am Tag nach der verlorenen Taschenuhr zu greifen. Die tief stehende Sonne, die in das Ostfenster schien, sagte ihr, dass es noch früh am Morgen war. Als sie ihr Kleiderbündel auf eine Zedernholzkommode legte, nahm sie aus dem Augenwinkel in einer dunklen Ecke eine Bewegung wahr - eine Frau, die barfuß in dem trüben Glas eines bodenlangen Spiegels stand. Sie trug eine altmodisch-romantische Bluse und hellblaue Jeans. Die Zeit verrann. Sekunden-, ja minutenlang nahm Mallory begierig das sanfte, feminine Bild in sich auf, das ihrer Mutter so ähnlich sah. Das Gesicht im Spiegel glänzte vor Tränen.
Schritte auf dem Gang brachten sie in die Gegenwart zurück. Sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, um die verräterischen Spuren zu tilgen.
Doch ihre Haut war trocken.
Sie stand ganz still und sah mit großen Augen ihre Hand an. Keine Spur von ...
Die Schritte kamen näher.
Nimm dich zusammen.
»Die Temperatur fällt wie verrückt«, sagte die alte Dame, die mit einem Arm voller Kleider hereinkam.
Der gescheiten Augusta war es offenbar gegeben, die unsichtbaren Spuren geisterhafter Tränen zu erkennen, denn ihre Stimme klang ungewohnt sanft. »Du brauchst einen Mantel. Ich habe einen, der dir passen könnte. Und die Laufschuhe waren nicht mehr zu retten.« Sie hielt ein Paar Reitstiefel im Westernstil aus feinem schwarzen Leder in die Höhe. »Wäre das was für dich?«
»Genau richtig. Und einen Mantel hab ich schon gefunden.«
Augusta besah sich den langen schwarzen Mantel, der über der Kommode lag, einigermaßen skeptisch. Er stammte aus einer Zeit, als man noch hoch zu Ross gereist war, aber zu der schönen alten Bluse passte er ganz vorzüglich, und auch in anderer Beziehung schien er nützlich zu sein. »Eine wirkungsvolle Tarnung in der Dunkelheit, nicht wahr? Ein Wunder, dass das alte Ding sich noch nicht aufgelöst hat. Es ist sehr viel älter als ich. Wenn es dir gefällt, gehört es dir.«
Sie öffnete einen großen Kleiderschrank und holte Schachteln vom obersten Brett. »Zu dem Mantel gab es auch einen passenden Hut, ich weiß nur nicht mehr genau, wo ich ihn verstaut habe. Meine Großmutter hat ihn getragen,
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