Der steinerne Engel
Tasse.«
»Ja, danke.« Er folgte ihr in einen Raum, in dem vollkommene Symmetrie herrschte. An einer Wand, genau in der Mitte, standen eine Couch und ein niederer Tisch, flankiert von identischen Sesseln. Auch die Beistelltische an den Seitenwänden waren genau mittig platziert, und an den Wänden hingen gleich große Bilder, umgeben von kleineren im jeweils gleichen Format. Mallory hätte sich in diesem Zimmer wohl gefühlt, weil es so aufgeräumt war. Allerdings fiel auf, dass die Polstermöbel teilweise recht abgewetzt waren.
»Ich würde gern auch mit Ira sprechen.«
»Aber gern. Er erinnert sich genau an Sie. Wenn wir in Jane's Café essen, sagt er immer wieder ›Sandwichmann, Sandwichmann‹. Setzen Sie sich doch, ich hole den Kaffee.«
Charles ließ sich in einem Sessel nieder, der an sichtbarer Stelle eine große geflickte Stelle aufwies.
»In diesem Haus hat sich seit zwanzig Jahren nichts verändert«, sagte sie leicht verlegen. »Ich renoviere nichts, lasse die Polstermöbel nicht neu beziehen und stelle sie auch nicht um, weil das Ira aus der Ruhe bringt. Er merkt sofort, wenn man irgendetwas auch nur um Haaresbreite verrückt, und dann muss er sich das Zimmer ganz neu einprägen. Wenn er nicht in der Schule ist, verbringt er die meiste Zeit hier.«
»Ich habe ihn auf dem Friedhof gesehen.«
»Ja, früher war das sein Lieblingsplatz, weil sich die Steine dort nicht vom Fleck rührten.«
»Hat er die neue Figur gesehen?«
»Nein. Ich habe ihm gesagt, er soll nicht hingehen, bis der Sheriff herausbekommen hat, was sich dort abspielt. Es ist wirklich nett von Ihnen, dass Sie Ira besuchen. Ich glaube, er hat, seit er sechs war, überhaupt keinen Besuch mehr bekommen.« Der letzte Satz kam schon aus der Küche, und gleich darauf war sie wieder da und reichte ihm eine Tasse Kaffee. »Schwarz und drei Stück Zucker, stimmt's?«
»Ja, danke. Mich interessiert Ira von Berufs wegen. Ich habe mit dem Direktor des Dallheim-Instituts in New Orleans telefoniert. Sie erforschen dort die Begabungen autistischer Menschen mit dem Ziel, mehr über das Gehirn allgemein zu erfahren, und bieten auch ein Programm für junge Erwachsene an. Die Arbeit mit Ira könnte Jahre dauern, aber es ist denkbar, dass er danach in der Lage ist, ein unabhängiges Leben zu führen.«
»Ich kenne die Dallheim-Leute.« Darlene ließ sich auf der Couch nieder und schaute in ihre Kaffeetasse. »Es ist mein großer Traum, dass Ira einmal ohne fremde Hilfe leben könnte. So, wie es jetzt um ihn steht...« Sie warf Charles einen traurigen Blick zu und suchte nach Worten. »Sollte mir etwas passieren, müsste er in ein Heim. Ich habe die Dallheim-Leute angefleht, ihn zu nehmen. Ich soll mich noch mal melden, wenn Ira einfache Gespräche führen kann, haben sie gesagt.«
»Der Direktor hat mir erzählt, dass Ira für sie nicht gesungen hat.«
»Nein, das macht er nur, wenn er Lust hat. Zum Klavierspielen kann man ihn schon eher bewegen. Er hat sehr hübsch Chopin für sie gespielt.«
»Im Dallheim-Institut wissen sie jetzt, dass Ira auch singen kann. Durch sein Mehrfachtalent ist er ein besonders interessanter Fall. Sie haben eine lange Warteliste, es kann Monate oder sogar ein Jahr dauern, ehe sie ihn nehmen, aber ich muss den Antrag vor seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag einreichen; das ist die Altersgrenze für dieses Programm.«
»Es hat keinen Sinn, dass ich ihn wieder mitnehme, wenn er nicht mit den Leuten reden kann.«
»Sie brauchen sich um nichts zu kümmern. Ich habe die Vollmacht, einen neuen Test mit Ira hier im Haus durchzuführen.«
»Aber Sie werden ihn nicht zum Sprechen bringen. Er redet nur Unfug.«
»Nicht nur. Die Echolalie ist in manchen Fällen ein Versuch, auf andere Menschen zu reagieren. Haben Sie nicht das Gefühl, dass er mit Ihnen kommunizieren will, wenn er Ihre Fragen wiederholt?«
»Ja, das stimmt, und das habe ich den Dallheim-Leuten auch gesagt, aber sie meinten, das zählte nicht.«
»Ich habe ihnen Auszüge aus Cass Shelleys Aufzeichnungen über Iras Therapie gefaxt. Für ein kleines Kind konnte er sich erstaunlich gut ausdrücken, hatte - was ganz ungewöhnlich ist - keine Probleme mit Personalpronomen und beherrschte die Grammatik und Syntax. Auch das wussten sie im Institut nicht.«
»Aber der Test...«
»Ich dachte an eine einfache Unterhaltung. Es gibt eine Möglichkeit, schnell Ergebnisse zu erzielen. Cass Shelley hat diese Methode angewendet, nachdem Ira seinen Rückfall hatte. Sie
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