Der steinerne Kreis
gewaltige Zug kehrt und strebte auf die Ausläufer des Gebirges zu. Die Herde bewegte sich jetzt gehorsam im Schritttempo vorwärts. Bald ließen sie die letzten Bäume hinter sich, drangen zwischen
Geröll und niedrigem Gestrüpp hangaufwärts und hatten bald die farblose Landschaft der Tundra erreicht. Hier öffnete sich ein weites Hochplateau, bewachsen von dichtem, kräftigem Gras und gesäumt von Granitblöcken, die wie eine alpine Balustrade wirkten. Dutzende von Männern und Frauen waren damit beschäftigt, Zelte zu errichten, indem sie Militärplanen über hohe Pyramiden aus Asten hängten.
Giovanni, der hinter Diane herging, murmelte: »Das sind urts , die Zelte der Tsewenen. Nie hätte ich gedacht, dass ich sie eines Tages zu sehen bekomme.«
Andere Gruppen bauten mit Birkenhölzern Pferche auf, in die bereits folgsam die Rentiere strömten. Auf Holzgestellen hingen Bauchfellnetze von Tieren, die Membranen, in denen die Eingeweide ruhen, wie zum Trocknen aufgehängte Laken. Diane ließ sich von ihrem Pferd führen. Elektrische Schauder liefen über ihre Haut, die sich stellenweise zu blutleeren Flecken verhärtete, während die Brandwunde sich allmählich bemerkbar machte, beißend wie ein Kälteschmerz.
Sie konnte sich der Faszination nicht entziehen. Sie betrachtete dieses Volk, das aus dem Nirgendwo aufgetaucht war und vielleicht nur dank der Nebelschwaden, die die Berge hier stets einhüllten, der Entdeckung aus der Luft entgangen war. Breit, hart, tief gefurcht waren die Gesichter, gegerbt von Wind und Kälte. Alle – Männer, Frauen, Kinder – trugen dunkle deels , nachtblau oder violett. Doch es war vor allem die Mannigfaltigkeit der Kopfbedeckungen, die die Einzigartigkeit eines jeden unterstrich: Gauchohüte, pelzbesetzte Tschapkas, Jakobinermützen, Filzhüte, Kapuzen … Es war ein bunter Reigen, der da auf dem Rücken der Pferde auf und nieder tanzte.
In der Mitte des Lagers angelangt, forderten mehrere Frauen Diane auf, abzusitzen. Sie sträubte sich nicht. Sie hatte gerade noch Zeit, Giovanni zuzumurmeln: »Mach dir keine Sorgen«, dann führten die Frauen sie zu einem allein stehenden Zelt, das mehr als hundert Meter entfernt nahe der Einfassung aus Felsblöcken aufgestellt war, und ließen sie eintreten. Es bot mehrere Quadratmeter Raum, der Fußboden bestand aus Gras und ein paar moosbewachsenen Steinen. Als sie den Blick hob, sah sie gefrorene Fleischstücke von den Zeltstangen herabhängen. Auf Rindenbrettchen lagen rituelle Gegenstände: Rosshaargirlanden, Vogelnester, ein Kranz aus kleinen Kieferknochen, die von jungen Rentieren stammen mochten. Es waren auch starre, schwärzliche Gebilde darunter, die an gedörrte Pfoten und Penisse von Tieren erinnerten.
Zwei ihrer Begleiterinnen entkleideten sie jetzt; die dritte warf unterdessen Rosshaare in die Glut der Feuerstelle und goss einige Tropfen Wodka dazu. Binnen Sekunden war Diane nackt und lag kälteschlotternd auf einer ledernen Unterlage, die härter war als Eisen. Sie starrte auf ihren Körper, der ihr riesig erschien, dürr wie ein Skelett und leichenblass auf dem schwarzen Lager. Drei Männer betraten das Zelt, und Diane rollte sich zusammen, doch sie warfen keinen Blick auf sie, sondern legten ihre Kopfbedeckungen ab – eine Skimütze, eine Kapuze, einen Filzhut – und griffen nach den Trommeln, die neben dem Heiligtum aufgestellt waren. Sofort begannen sie zu trommeln: harte, dumpfe Töne ohne Nachhall. Diane erinnerte sich an eine Bemerkung von Giovanni: dass in der Taiga die rituellen Trommeln stets aus dem Holz von Bäumen hergestellt würden, die vom Blitz gefällt worden waren.
In den Rhythmus mischte sich nun ein kehliges Röcheln, leicht synkopiert, das ein gedämpftes Echo hinter den vorherrschenden Trommelschlägen bildete. Die Männer, die in zerschlissene schwarze deels gekleidet waren, wiegten sich nun hin und her und hoben ihre Trommeln hoch empor, ohne eine Miene zu verziehen. Sie sahen aus wie grimmige Bären, struppig vom Wald.
Die Frauen zwangen Diane, sich der Länge nach auszustrecken. Sie versuchte erst, ihre Nacktheit zu bedecken, doch der Rauch aus dem Feuer war inzwischen so dicht geworden, dass ihr Körper kaum noch zu sehen war. Eine Frau warf ihr Hände voll Talkpuder über den Oberkörper, während eine andere ihr ein kochendheißes Getränk einflößte. Die unterschiedlichsten Empfindungen brandeten über sie hinweg, ohne dass eine sich durchsetzen konnte: Kälte, Panik, Atemnot … Diane
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