Der steinerne Kreis
Feuer. Zwischen den krummen Fingern der Schamanin kräuselte sich der Rauch aus dem kleinen Körper.
Das Weitere geschah sehr schnell.
Die Schamanin schwenkte den brennenden Flederwisch zum Zeltdach hinauf. Dann drehte sie sich um die eigene Achse in einem Wirbel aus Fransen und klirrendem Metall und zerschmetterte das Tier auf einem Stein. Unmittelbar darauf zog sie einen Hirschfänger aus dem Ärmel und schlitzte den Tierkörper vom Bauch bis zur Kehle auf. Diane sah die schwelenden Eingeweide hervorquellen. Sie sah die gichtigen Finger der Schamanin im Gedärm wühlen, und dann sah sie zwischen den dunkel glänzenden Organen ein schwarzes Gebilde hervorbrechen, eine Generation entarteter Zellen, die Fasern und Gewebe ausschwitzten. Knoten der Angst. Sichtbare Spuren des Leidens. Ein Gekröse des Todes.
Ehe sie das Bewusstsein verlor, erkannte Diane die Wahrheit.
Der Krebs.
Der Strahlenkrebs war auf den Tierkörper übergegangen.
KAPITEL 65
Als Diane wieder erwachte, neigte sich der Tag dem Ende zu. Sie reckte sich, spürte ihre Muskeln sich bis in die Extremitäten hinein anspannen und genoss die Wärme des Feuers, das in der Mitte des Raums knisterte. In der Ferne hörte sie die Geräusche des Zeltlagers. Alles war so angenehm, so vertraut …
Sie befand sich in einer urt , einem mongolischen Zelt, in dem es außer der Feuerstelle nur ein paar Holzsättel, einen Webrahmen und die unvermeidlichen grauen Felsblöcke gab, die als Mobiliar dienten. Von Schamanismus war keine Spur mehr zu sehen – ausgenommen ein paar kleine Figuren, die von der Decke herabhingen, in getrocknete Rentierohren gekleidet, um den Hals die Schnauzen kleiner Nagetiere. Wenn sie den Blick hob, sah sie durch die Öffnung im Dach den Himmel und erinnerte sich, dass Giovanni gesagt hatte, die Mongolenzelte seien nach oben hin immer offen, damit Heim und Herd mit dem Kosmos in Verbindung blieben.
Sie setzte sich auf, schob die Filzdecke beiseite und stellte fest, dass sie in frische Unterwäsche gekleidet war. Jeans und Rollkragenpullover lagen sorgfältig gefaltet neben ihr, und sogar ihre Brille, ein spiegelndes Funkeln im Gras, befand sich in Reichweite. Mechanisch setzte sie die Gläser auf, dann hob sie das T-Shirt an, um die Brandwunde zu betrachten. Was sie sah, überraschte sie nicht. Eine Welle der Dankbarkeit stieg in ihr auf, und eine Flut der Liebe durchströmte ihren Körper wie ein sonnenbeschienener Fluss. Sie zog sich vollständig an und verließ das Zelt.
Draußen war das Lager unterdessen komplett eingerichtet, an die vierzig Zelte verteilten sich über die Lichtung. Im Licht des Abends wirkte die Tundra mehr denn je wie eine Mondlandschaft. Die Nomaden gingen ihren Tätigkeiten nach – die Frauen waren in den Zelten mit der Zubereitung des Essens beschäftigt, die Männer führten die letzten Rentiere zum Pferch, die Kinder rannten wild durcheinander durch die Dunstschwaden, und ihr Gelächter zerriss die rauchgraue Luft.
Diane lächelte unwillkürlich, als sie Giovanni erblickte, der allein an einem Feuer saß. Sie ging zu ihm und setzte sich neben ihn zwischen Sättel und Gepäck. Der Italiener reichte ihr einen Becher Tee. »Wie geht’s?«, erkundigte er sich.
Sie nahm den Becher entgegen, schnupperte den aufsteigenden Dampf und gab keine Antwort. Er hakte nicht nach. In seinen Parka gehüllt, stocherte er mit einem dürren Ast in der Glut. Endlich murmelte Diane: »Giovanni, wir werden nie mehr dieselben Menschen sein wie zuvor.«
Der Italiener schaute auf. »Wie geht’s Ihnen?«, fragte er noch einmal.
Diane starrte in die Flammen und sagte: »Wir aufgeklärten Westler halten schamanistische Praktiken für Aberglauben und naives magisches Denken und verachten sie als Einbildung und Schwäche. Was für ein Irrtum: Dieser Glaube ist eine enorme Kraft!«
Giovanni gab keine Antwort, sondern beugte sich vor und blies ins Feuer, bis die brennenden Gräser sich zu orangeroten Fäden rollten und einen winzigen, glühenden Reigen aufführten.
»Es ist eine Kraft, Giovanni«, wiederholte Diane. »Das ist mir heute klar geworden. Denn wenn der Geist glaubt, steht ihm nichts mehr im Weg. Vielleicht ist er sogar allmächtig. Die menschliche Ausprägung einer Kraft, die allen Elementen des Universums gemeinsam ist.«
Der Italiener richtete sich abrupt auf, mürrisch, als verschanzte er sich hinter seinem Bart. »Diane«, sagte er, »ich verstehe Ihre Aufregung, aber ich persönlich glaube nicht
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