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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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hat Sie heute Abend über den aktuellen Gesundheitszustand Ihres Kindes informiert. Ich habe die Krankenakte selbst gelesen.« Er verstummte für einen Moment, dann fuhr er fort: »Ich denke, Sie wissen Bescheid. Aus der Sicht der Schulmedizin besteht keine Hoffnung mehr.«
    »Aus der Sicht der Schulmedizin?«
    Diane bereute ihre Frage augenblicklich. Viel zu eifrig hatte sie sich auf die Bemerkung des Mannes gestürzt.
    »Wir könnten es mit einer anderen Methode versuchen«, sagte der Deutsche.
    »Nämlich?«
    »Mit Akupunktur.«
    »Sie verkaufen mich für blöd«, zischte Diane. »So leichtgläubig bin ich nicht. Du lieber Himmel, hauen Sie bloß ab, bevor ich Sie eigenhändig rauswerfe.«
    Der Anästhesist rührte sich nicht. Seine monumentale Gestalt ragte vor der spiegelnden Glaswand auf.
    »Ich bin in einer schwierigen Lage, Madame. Ich habe nicht die Zeit, um Sie zu überzeugen. Aber Ihr Sohn hat noch viel weniger Zeit …«
    Aus seinem Tonfall hörte Diane auf einmal eine spontane, persönliche Anteilnahme heraus, die ihr zu Herzen ging. Es war das erste Mal, dass jemand ohne Verlegenheit oder Herablassung ihre Mutter-Sohn-Beziehung mit Lucien zur Sprache brachte.
    »Sie wissen, worunter Ihr Sohn leidet, nicht wahr?«, fuhr der Doktor fort.
    Sie senkte den Kopf. »Unter einem Blutandrang zum Gehirn, der …«, begann sie zögernd.
    »… sein Gehirn erdrückt und ihm die Sauerstoffzufuhr abschneidet, ja. Wissen Sie aber, wie es zu diesem Blutandrang kommt?«
    »Durch den Schock. Das Trauma der Schädelverletzung. Es ist eine Folge des Hämatoms …«
    »Gewiss. Aber auf einer tieferen Ebene? Wissen Sie, was der eigentliche Grund ist? Was die Kraft ist, die das Blut zum Gehirn treibt?«
    Sie schwieg. Der Arzt beugte sich zu ihr.
    »Wenn ich Ihnen sage, dass ich diese Tendenz beeinflussen kann? Diesen Impuls verlangsamen?«
    Diane bemühte sich um einen ruhigen Ton, doch ihre Empörung gewann schließlich die Oberhand.
    »Hören Sie«, sagte sie. »Zweifellos hegen Sie die besten Absichten, aber mein Sohn wurde hier von den besten Ärzten versorgt, die alles für ihn getan haben, was medizinisch möglich ist. Ich kann mir nicht vorstellen, wie …«
    »Gewiss. Aber Eric Daguerre befasst sich mit den materiellen Phänomenen des Lebens, ich hingegen kann auf den anderen, den geistigen Aspekt einwirken, auf die Energie, die diese Mechanismen in Gang setzt. Ich kann die Kraft schwächen, die das Blut Ihres Sohnes zum Gehirn treibt und ihn allmählich umbringt.«
    »Das glauben Sie doch selber nicht.«
    »Hören Sie mir zu!«
    Diane zuckte zusammen: Der Arzt hatte sie beinahe angeschrien. Sie warf einen Blick auf den Flur hinaus: menschenleer. Noch nie war ihr die Station so still, so verlassen erschienen, und eine dumpfe Angst stieg in ihr auf. Unterdessen sprach der Deutsche weiter, nun in gedämpfterem Ton:
    »Wenn Sie einen Fluss betrachten, sehen Sie das Wasser, die Gischt, vielleicht die Wasserpflanzen, die sich im Strom wiegen, aber die Hauptsache sehen Sie nicht: nämlich die Strömung, die Bewegung, das Leben des Wasserlaufs. Wer würde wagen zu behaupten, dass der menschliche Körper nicht genauso funktioniert? Wer würde wagen zu behaupten, dass der Komplexität des Blutkreislaufs, des Herzrhythmus, des Hormonhaushalts nicht eine einzige Strömung zugrunde liegt, die alle diese vielschichtigen Mechanismen zum Leben erweckt – die vitale Energie?«
    Wieder schüttelte sie den Kopf. Der Mann war unterdessen näher gerückt und nur noch wenige Zentimeter von ihr entfernt. Das weitere Gespräch verlief in einer Art Beichtstuhlatmosphäre.
    »Ein Fluss hat seine Quelle, seine unterirdischen Wasseradern, unserem Blick verborgen. Das Leben hat ebenfalls seine geheimen Ursprünge, seine wasserführenden Schichten im Untergrund. Eine ganze Geografie in der Tiefe, die sich der naturwissenschaftlichen Erforschung noch weitgehend entzieht und dennoch in unserem Körper vorhanden und aktiv ist.«
    Diane rührte sich nicht, ihr Gesicht verriet keine Regung. Was der Arzt nicht wissen konnte: Diese Reden waren ihr nicht neu. Wie oft hatte sie ihre Wing-Tsun-Meister über das chi, die Lebensenergie, über yin und yang und alle diese Begriffe salbadern hören! Aber sie war für derlei nicht empfänglich. Im Gegenteil, ihre Siege auf den Tatamis bewiesen doch, wie gegenstandslos diese Hypothesen waren: Man konnte Champion im Shaolin-Boxen sein, ohne einen Pfifferling auf die philosophischen Grundlagen und Werte zu

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