Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
Vom Netzwerk:
besänftigenden, halb ärgerlichen Ton, mit dem man ein Kind zur Vernunft zu bringen sucht: »Diane, Sie wissen, wer ich bin und was ich tue. Aus neurobiologischer Sicht kenne ich das menschliche Gehirn so gut wie vielleicht nur ein Dutzend weiterer Spezialisten weltweit.«
    »Ich will in keiner Weise Ihre Kompetenz in Frage stellen.«
    »Lassen Sie mich ausreden. Das Gehirn weist eine unendliche Komplexität auf. Wissen Sie, wie viele Nervenzellen wir besitzen?« Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr er fort: »Hundert Milliarden – durch Myriaden von Synapsen miteinander verschaltet. Wenn ein derart ausgeklügeltes, kompliziertes System wieder in Gang kommt, so deshalb, weil es wieder funktionieren musste . Es ist der Organismus Ihres Kindes, der zu seinen Gunsten entschieden hat, verstehen Sie?«
    »Das können Sie jetzt leicht sagen.«
    »Sie vergessen, dass ich Ihr Kind operiert habe.«
    »Entschuldigung.« In sanfterem Ton fügte sie hinzu: »Bitte verzeihen Sie mir, Herr Doktor. Aber ich bin überzeugt, dass dieser deutsche Arzt zu der Entwicklung, die jetzt eingetreten ist, maßgebend beigetragen hat.«
    Daguerre legte endlich seinen Bleistift beiseite und faltete die Hände. Im selben Tonfall wie seine Gesprächspartnerin sagte er: »Sie halten mich womöglich für einen verbohrten Schulmediziner. Aber Sie irren sich. Zum Beispiel habe ich eine Zeit lang in Vietnam praktiziert.« Ein träumerisches Lächeln glitt über sein Gesicht, als er an seine Vergangenheit dachte. »Nach meiner Facharztausbildung war ich eine Zeit lang in der Entwicklungshilfe tätig, und in Asien habe ich mich mit der Akupunktur befasst. Sie wissen, worauf das Verfahren beruht? Worin die berühmten Akupunkturpunkte bestehen?«
    »Doktor van Kaen hat von Meridianen gesprochen …«
    »Und Sie wissen, was die körperlichen Entsprechungen dieser Meridiane sind, worauf sie sich beziehen?«
    Diane schwieg. Sie versuchte sich auf die Worte des Deutschen zu besinnen, doch Daguerre kam ihr zuvor: »Auf gar nichts«, sagte er. »Physiologisch gesehen, existieren diese Meridiane nicht. Man hat versucht, die Akupunktur mit naturwissenschaftlichen Methoden zu ergründen, hat die verschiedensten Untersuchungen durchgeführt, auch mittels Röntgen und Computertomografie. Es kam aber nie etwas dabei heraus. Entgegen den Behauptungen entsprechen die Akupunkturpunkte nicht einmal bestimmten Hautzonen. Aus der Sicht der modernen Physiologie sticht der Akupunkteur einfach irgendwo zu und erzeugt heiße Luft. Alles Quatsch.«
    Diane fielen die Worte van Kaens wieder ein, und sie unterbrach ihn: »Der deutsche Arzt hat von der Lebensenergie gesprochen, die in Bahnen im Körper zirkuliert, und …«
    »Und diese Energie ließe sich einfach so anzapfen?« Daguerre schnalzte mit den Fingern. »An der Hautoberfläche? Und den Verlauf dieser Leitungsbahnen soll allein die chinesische Medizin entdeckt haben? Das ist doch absurd.«
    Es klopfte an der Tür, und gleich darauf trat Madame Ferrer ein. Leicht außer Atem verkündete sie: »Herr Doktor, der Mann, der ins Gebäude eingedrungen ist, wurde gefunden.«
    Dianes Miene erhellte sich. Sie drehte sich auf dem Stuhl herum, mit dem Ellenbogen auf die Rückenlehne gestützt, und fragte: »Haben Sie ihm Bescheid gesagt, dass es Lucien besser geht? Und – was sagt er?«
    Madame Ferrer ging auf ihre Frage gar nicht ein, sondern wandte sich an Daguerre: »Es gibt da ein Problem, Herr Doktor.«
    Der Chirurg griff von neuem nach seinem Bleistift und ließ ihn wie ein Tambourstöckchen um den Zeigefinger kreisen. Er versuchte zu scherzen: »Nur eines? Sind Sie sicher?«
    Ohne den Anflug eines Lächelns entgegnete die Krankenschwester: »Herr Doktor, der Mann ist tot.«
     

 
     
KAPITEL 13
     
    Diane befand sich nun im zweiten Stock des Lavoisier-Gebäudes – laut Beschilderung im Flur der Station für genetische Forschung – und wartete. Warum hatte man sie hierher gebracht? Wieso in die Genetik? Eigenartig. Sie stand aufrecht an die Wand gelehnt, stützte sich mit hinter dem Rücken verschränkten Händen ab und schwankte zwischen himmelhohem Jauchzen über das erste Anzeichen einer Besserung bei Lucien und tiefem Unbehagen über den Tod van Kaens. Es war halb sechs Uhr morgens, und noch hatte ihr niemand irgendetwas gesagt. Nicht die geringste Andeutung über die Art und Weise seines Verschwindens. Kein Wort über die Umstände, unter denen seine Leiche gefunden worden war.
    »Diane Thiberge?«
    Sie drehte sich

Weitere Kostenlose Bücher