Der steinerne Kreis
der Leitplanke auf dem Mittelstreifen zwischen den beiden Fahrtrichtungen ab.
Mit einem raschen Griff hielt sie die Stoppuhr an.
Fünf Minuten und siebenunddreißig Sekunden.
Sie stand genau dort, wo sich der Unfall ereignet hatte. Die beschädigte Leitplanke war inzwischen ersetzt worden, aber die Schrammen an der Tunneleinfahrt, die der Lkw-Anhänger in den Beton gekerbt hatte, waren noch deutlich zu sehen.
Fünf Minuten und siebenunddreißig Sekunden.
Das war der erste Teil der Wahrheit.
Sie reihte sich wieder in den Verkehr ein. An der Porte Maillot verließ sie die Ringautobahn, überquerte rasch den Platz und bog in entgegengesetzter Richtung in den Périphérique ein, auf dem sie zur Place Molitor zurückkehrte. Dort angelangt, bog sie von der Schnellstraße ab und in den Boulevard Suchet ein. Vor der Hausnummer 72, wo ihre Mutter wohnte, fuhr sie langsamer und rechnete mit einem neuerlichen Unbehagen, einer Flut von Erinnerungen. Nichts geschah. Sie versuchte sich zu erinnern, wo sie an dem Abend geparkt hatte, und bald fiel es ihr wieder ein: in der Avenue du Maréchal-Franchet-d’Espérey, neben der Pferderennbahn von Auteuil.
Dorthin fuhr sie auch jetzt, blieb ungefähr an der Stelle stehen, wo sie damals den Wagen gelassen hatte, dann setzte sie wieder die Stoppuhr in Gang. Gleich darauf fuhr sie durch die baumbestandene Straße, bis sie etwa einen Kilometer weiter rechts auf die Place de la Porte-de-Passy einbog. Genau wie an dem unseligen Abend. Und wie damals bog sie von hier in den Boulevard Périphérique ein.
Ein Blick auf die Uhr: zwei Minuten, dreiunddreißig Sekunden.
Diane fuhr absichtlich so schnell wie damals mit dem Toyota. Hundertzwanzig Stundenkilometer. Porte de la Muette. Vier Minuten.
Über den Strebepfeilern des Périphérique sah sie die hohen, schmalen Gebäude, die der Botschaft der Russischen Föderation gehörten.
Vier Minuten, fünfzig Sekunden.
Die Gebäude der Universität Paris IX.
Fünf Minuten, zehn Sekunden …
Endlich die verhängnisvolle Tunneleinfahrt. Diesmal hielt Diane rechts auf der Standspur an und schaltete das Warnblinklicht ein. Ohne Gehupe und quietschende Bremsen von hinten. Trotzdem zitterte ihre Hand, als sie nach der Uhr griff: Fünf Minuten fünfunddreißig.
Eine so exakte Übereinstimmung hätte sie sich nicht einmal träumen lassen. Sowohl vom Parkplatz an der Avenue de la Porte d’Auteuil als auch von der Avenue du Maréchal-Franchet-d’Espérey dauerte es fünf Minuten und fü
nfunddreißig Sekunden bis zur Unfallstelle. Es war also nichts weiter nötig, als dass Marc Vulovic, der auf irgendeine obskure Weise »programmiert« worden war, im selben Moment losfuhr, in dem Diane und ihr Sohn in ihren Wagen stiegen, damit die beiden Fahrzeuge an der Einfahrt zum letzten Tunnel vor der Porte Dauphine aufeinander trafen.
Diane dachte ernsthaft über die Möglichkeit einer Falle nach. Einer Falle, die mit einem schlafenden Fahrer, sintflutartigem Regen und einem Lkw mit hoher Geschwindigkeit arbeitete. Ein Hinterhalt dieser Sorte setzte einen Wachposten voraus, der vor dem Wohnhaus am Boulevard Suchet stand und ihre Abfahrt beobachtete, während ein zweiter durch Hypnose oder eine andere nicht näher definierte Technik im selben Moment Marc Vulovic das »Signal« gab. Die beiden Männer brauchten nur über ein Funkgerät oder ein Mobiltelefon in Kontakt zu stehen. So weit war daran noch nichts Unmögliches.
Als Nächstes stellte sich das Problem des Einschlafens: Es musste im selben Moment passieren, in dem der Jeep den Weg des Lkws kreuzte. Und eben hier war eine Falle denkbar: Hatte sie Recht, so hätten die Mörder den Schnittpunkt der beiden Routen ausrechnen und kurz davor ein Signal vorbereiten können, das den Fahrer in Schlaf versetzte …
Diane schloss die Augen. Sie hörte die Autos auf dem Boulevard Périphérique vorüberrauschen. Vielleicht hatte sie den Verstand verloren, vielleicht vergeudete sie lediglich ihre Zeit, aber jetzt wusste sie immerhin, dass an den äußersten Rändern der Vernunft ein derart ausgeklügelter Hinterhalt immerhin denkbar war.
Es blieb noch ein Detail, ohne das der Plan nicht funktionierte. Ein Detail, das nicht ins Bild passte, von Anfang an nicht. Diane blinkte und reihte sich wieder in den Verkehr ein.
Rasch schaltete sie in den fünften Gang und fuhr in Richtung Porte de Champerret.
KAPITEL 21
»Gute Frau, wenn Sie jemandem auf den Wecker gehen wollen, dann müssen Sie schon
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