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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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deutlicher und fester geworden, trotz der Fakten, die sie Lügen straften: Sie war sicher, dass sie Lucien den Gurt angelegt, die Schnalle hatte einrasten lassen. Jetzt, wo sie vor dem Sitz stand, zweifelte sie nicht mehr.
    Wie waren diese beiden Wahrheiten miteinander in Einklang zu bringen? Sie kletterte in den Wagen und beleuchtete den Kindersitz mit der Taschenlampe. Sie dachte über die Möglichkeit einer Sabotage nach: einen angeschnittenen Gurt, eine durchgesägte Halterung … Doch nein, es war alles intakt. Sie kauerte sich vor dem Rücksitz nieder. Auf der Bank lag ein Wirrwarr aus Schachteln mit fotokopierten Artikeln, Plastikbehältern mit Büroklammern, einer kakifarbenen Daunendecke, die bis auf den Boden hing – das alles war beim Zusammenstoß durcheinander geworfen worden und ballte sich vor der Rücklehne. Sie beleuchtete das Chaos, hob einzelne Gegenstände hoch, schob sie beiseite. Sie fand nichts.
    Aber sie gab nicht auf. Mit einem Knie auf dem Sitz beugte sie sich über die Rückenlehne zum Kofferraum. Die Wucht der Kollision hatte die Hecktür abgerissen – Diane erinnerte sich, dass ihr das Blech in den Nacken geprallt war. Der umherwandernde Lichtstrahl erfasste weitere Kartons, einen alten Jutesack, Wanderschuhe, einen benzingetränkten Parka. Nichts Ungewöhnliches, nichts Verdächtiges.
    Dennoch nahm in ihrem Bewusstsein langsam ein Gedanke Gestalt an, eine Hypothese, die ihr, so absurd sie war, doch nicht mehr aus dem Sinn ging. Sie schaltete die Lampe aus und lehnte sich mit dem Rücken an den Fahrersitz. Um ihre Vermutung zu überprüfen, musste sie den einzigen Menschen befragen, der die Szene bezeugen konnte.
    Sich selbst.
    Sie musste ihre Erinnerungen auffrischen, um sich zu vergewissern, ob sie im Begriff war, den Verstand zu verlieren, oder ob dieses Ereignis tatsächlich die Grenze zur Absurdität überschritt.
    Es gab nur eine Technik, mit der es möglich war, so tief ins eigene Innere einzutauchen.
    Und einen gab es, der ihr dabei helfen konnte.
     

 
     
KAPITEL 22
     
    Das Restaurant hatte eine marmorne Eingangshalle, die in einen weiten, mit dunklem Velours ausgekleideten Speisesaal führte. Die Tische standen zwischen weißen Säulen oder schmiegten sich in halbrunde Nischen. Im gedämpften Licht funkelte das lackierte Holz eines Konzertflügels, Gemälde von Landschaften in rotgoldener Abendstimmung zierten die Wände, und zu der luxuriösen Umgebung bildeten die Gärten der Champs-Élysées, auf die der Blick durch die Panoramafenster fiel, einen zarten Kontrapunkt aus dunklem Laub und hellen Fassaden. Der stürmische Himmel an diesem Tag verbreitete ein diffuses, perlmuttfarbenes Licht, das wunderbar mit der beschaulichen Stimmung, der gedämpften Beleuchtung des Raums harmonierte. Der Sparsamkeit der Farbtöne und Lichteffekte entsprach eine besondere Art der Stille: dezentes Gemurmel, durchsetzt vom Klingen der Kristallgläser und dem Klirren des Silberbestecks, von verhaltenem Lachen.
    Diane folgte dem Empfangschef. Sie spürte etliche Blicke, die sie im Vorübergehen streiften. Die meisten Gäste waren Männer, die dunkle Anzüge und ein düsteres Lächeln zur Schau trugen, aber sie ließ sich nicht in die Irre führen: Hinter der angenehmen Atmosphäre und den sanften Mienen schlug das geheime Herz der Macht. Dieses Restaurant war einer jener Orte, die nur den Eingeweihten zugänglich waren: Mittag für Mittag wurde hier über das politische und ökonomische Geschick des Landes entschieden.
    Der Empfangschef führte sie zur letzten Nische vor den Panoramafenstern und entschwand. Hier saß Charles Helikian. Er las keine Zeitung. Er unterhielt sich nicht mit dem Geschäftsmann am Nebentisch. Er wartete auf sie. Das schien ihm völlig ausreichend. Diane wusste diese stillschweigende Respektbezeugung zu schätzen.
    Unmittelbar nach der Werkstatt hatte sie ihren Stiefvater auf seinem Mobiltelefon angerufen – dessen Nummer in ganz Paris maximal zehn Personen bekannt war – und ihn dringend um ein Gespräch gebeten. Mit einem Lachen hatte Charles zugestimmt, wie man der Laune eines Kindes nachgibt, und ihr dieses Restaurant, wo er sich mit einem Kunden zum Mittagessen getroffen hatte, als Treffpunkt genannt. Diane hatte gerade noch Zeit gehabt, nach Hause zu fahren, sich der Haschisch- und Werkstattgerüche zu entledigen und hier zu erscheinen, in einer Aura der Kühle und Lässigkeit, wie es sich gehörte.
    Charles stand auf und half ihr aus dem Regenmantel.

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