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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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dem Weg der Genesung ist. Heute Morgen haben wir die Dränagen entfernt. Bald können wir ihn auf die normale Station verlegen.«
    Irgend etwas an seiner Munterkeit klang falsch. Diane fixierte seine Augen, die tief in den Höhlen funkelten, und dachte an die Anarchisten aus Anna Karenina , die dem vorüberfahrenden Zaren Bomben vor die Kutsche warfen: Sie mussten solche Augen gehabt haben. Aufs Geratewohl fragte sie weiter: »Was haben Sie mir sonst noch zu sagen?«
    Der Arzt schob die Hände in die Taschen und ging ein paar Schritte auf und ab. Ob Tag oder Nacht, sein Büro war stets von demselben gleißenden Licht erfüllt.
    »Ich wollte Ihnen Didier Romans vorstellen«, sagte er schließlich. »Er ist Anthropologe.«
    Diane geruhte sich nach der dritten im Raum anwesenden Person umzudrehen, die sie bisher ignoriert hatte. Es war ein Mann, jünger als Daguerre, dunkelhaarig, dürr und steif wie ein Zollstock, mit einer schwarzen Hornbrille in einem vollkommen verschlossenen Gesicht. Sein Anblick ließ den Gedanken an eine Gleichung oder eine abstrakte Formel aufkommen.
    »Didier ist Anthropologe im modernen Sinn des Begriffs«, fuhr Daguerre fort. »Fachmann für Biometrie und Populationsgenetik.«
    Der Mann mit der hermetischen Miene nickte. Ein schüchternes Lächeln versuchte sich in sein Gesicht einzuschleichen, wurde jedoch augenblicklich wieder verbannt.
    »Sagt Ihnen das was?«, fragte Daguerre.
    »Mehr oder weniger, ja«, antwortete Diane.
    Daguerre warf dem Wissenschaftler einen lächelnden Blick zu: »Hab ich’s dir nicht gesagt? – Sie weiß alles.«
    In ihren Ohren klang der sonnige Ton zunehmend hohl.
    »Ich habe ihm Luciens Fall auseinandergesetzt«, fuhr Daguerre fort, »und ihn gebeten, einige Analysen vorzunehmen.«
    Diane fuhr auf wie elektrisiert. »Analysen? Ich hoffe, Sie …«
    »Natürlich keine klinischen Untersuchungen. Wir haben lediglich bestimmte physiologische Merkmale Ihres Sohnes mit anderen, sagen wir: allgemeineren Kriterien verglichen.«
    »Das heißt?«
    Nun ergriff der Anthropologe das Wort: »Mein Fachgebiet ist die Polymorphie, Madame. Ich arbeite an der Charakterisierung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen der Erde. In jedem Volk, jeder Ethnie treten bestimmte Merkmale häufiger auf als andere, die natürlich nicht bei allen Mitgliedern der Gemeinschaft in gleichem Maß ausgeprägt sind; allerdings existieren immer bestimmte Mittelwerte, aufgrund deren sich ein generelles Porträt der ethnischen Familie zeichnen lässt.«
    Er unterbrach sich und setzte sich umständlich nieder. Dann fuhr er fort: »Es schien uns interessant, Luciens physiologische Merkmale mit den entsprechenden Mittelwerten zu vergleichen, die uns von den Bevölkerungsgruppen der Region, aus der er kommt, vorliegen. Wir versprachen uns davon eine Möglichkeit, seine ethnische Zugehörigkeit … nun: genauer einzugrenzen.«
    Dianes Zorn wuchs; allerdings richtete er sich gegen sich selbst. Wieso hatte sie nicht schon längst daran gedacht? Sie hatte sich mit dem Waisenhaus in Verbindung gesetzt, hatte einer Linguistin die Tonbandaufnahme von Lucien vorgelegt, hatte versucht, das Heilverfahren zu begreifen, das ihn gerettet hatte. Aber sie war nicht auf die Idee gekommen, sich mit einem offensichtlichen Anhaltspunkt zu befassen: seinem Körper. Diesem Körper, der vielleicht bestimmte physiologische Eigenheiten aufwies, anhand deren sich seine Herkunft feststellen ließ.
    Sie drehte sich zu Romans und fragte in ruhigerem Ton: »Was haben Sie herausgefunden?«
    Der Anthropologe beugte sich vor und entnahm seiner Aktentasche ein Bündel Papiere.
    »Fangen wir mit der Größe an, wenn’s Ihnen recht ist. Bei seiner Aufnahme in die Klinik haben Sie angegeben, Lucien sei ungefähr sechs oder sieben Jahre alt. Aber ein Blick in seine Mundhöhle zeigt uns, dass er noch sämtliche Milchzähne hat. Das heißt, er ist vermutlich erst fünf.«
    Er zog ein anderes Blatt aus dem Stapel; Diane erkannte das Aufnahmeformular, das sie in der Nacht des Unfalls ausgefüllt hatte.
    »Hier schreiben Sie, Lucien stamme aus einem Volk aus der Andamanenregion.«
    Diane breitete ratlos die Hände aus. »Aber das weiß ich nicht. Die Leiterin des Waisenhauses meinte, die paar Wörter, die Lucien sagt, seien weder Thai noch Birmanisch, noch sonst irgendeine Sprache aus der Gegend.«
    Romans warf ihr einen kurzen Blick über den Brillenrand zu und sagte: »Aber Sie nehmen an, dass er aus dem Gebiet zwischen, sagen wir: Birma,

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