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Der steinerne Kreis

Der steinerne Kreis

Titel: Der steinerne Kreis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Gebieten Körpergröße, Hautpigmentierung und physiologische Merkmale zusammenzählen, erhalten wir eine Gleichung, die auf eine Verbindung von Ebene, Kälte und Höhe schließen lässt …«
    »Ist das alles?«, murmelte Diane dumpf.
    Der Mann hob sein Bündel Papiere hoch. »Oh, das geht noch über mehr als fünfzig Seiten so weiter. Wir haben alles untersucht: Blutgruppe, Gewebeantigene, Chromosomen. Kein Ergebnis – ich wiederhole: kein einziges Ergebnis – stimmt dem jeweiligen Mittelwert aus der Andamanenregion überein.«
    »Und ich nehme an, Ihre Ergebnisse führen Sie zu einer ganz bestimmten Vermutung …«, flüsterte Diane.
    »Türkmongolische Herkunft, Madame. Ihr Sohn weist alle dominanten Merkmale der zentralasiatischen und ostsibirischen Steppenvölker auf. Lucien ist kein Kind der Tropen, sondern stammt aus der Taiga. Geboren ist er zweifellos mehrere tausend Kilometer von dem Ort, an dem Sie ihn adoptiert haben.«
     

 
     
KAPITEL 26
     
    Diane brauchte mehr als zwanzig Minuten, bis sie wieder bei ihrem Wagen war.
    Sie überquerte die Rue de Sèvres zur Rue du Général-Bertrand. Kurz darauf bog sie nach rechts in die Rue Duroc ein und an der nächsten Ecke links in die Rue Masseran und folgte dann der Avenue Duquesne. Ihr Atem ging schnell, ihr Herz klopfte wild. Sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Vergeblich. Zu viele Fragen – und keine einzige Antwort. Wie hatte es den Sprössling eines türkmongolischen Volkes in den glutheißen Staub von Ranong an der Grenze zwischen Thailand und Birma verschlagen? Wie – und warum – hatte ein Mann wie Rolf van Kaen vom Todeskampf dieses Kindes erfahren, und dies zu einem Zeitpunkt, da er selbst sich allem Anschein nach zu einer Reise in die wahre Heimat des Kindes anschickte? Und wie konnte ein fünfjähriger Junge, egal, woher er kam, Objekt solcher Begierden und Auslöser für die unheilvollen Machenschaften sein, die Diane argwöhnte?
    In der Nähe der Place de Breteuil erspähte sie endlich ihren Wagen und kroch hinein wie in eine Zufluchtsstätte. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken – doch sie bewegten sich im Kreis, kamen zu keiner Lösung.
    Auf einmal aber blitzte in der Tiefe ein Lichtschimmer auf, und sie sah einen Weg, die Wahrheit herauszufinden. Das spanische Kloster kam ihr wieder in den Sinn – die ultravioletten Strahlen, unter denen die verborgene Schrift auf dem Palimpsest sichtbar wurde. Sie hatte ja ihren eigenen Lichtstrahl, um Luciens verborgenes Gesicht zu erkennen. Sie holte ihr Mobiltelefon hervor und gab die Nummer von Isabelle Condroyer ein, der Ethnologin, die sie gebeten hatte, die Sprache ihres Sohnes zu identifizieren.
    Die Wissenschaftlerin erkannte sie gleich wieder: »Diane Thiberge? Oh, es ist noch viel zu früh für ein Ergebnis. Ich habe mich mit mehreren Südostasien-Experten in Verbindung gesetzt, und wir wollen uns demnächst gemeinsam mit der Kassette …«
    »Ich habe Neuigkeiten.«
    »Neuigkeiten?«
    »Die Einzelheiten erspare ich Ihnen, nur soviel: Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Lucien nicht aus der tropischen Region stammt, in der ich ihn adoptiert habe.«
    »Wie kommen Sie darauf?«
    »Das Kind stammt vermutlich aus Zentralasien. Irgendwoher aus Sibirien oder der Mongolei.«
    »Das ändert natürlich alles«, murrte die Ethnologin. »Zentralasien fällt ganz und gar nicht in mein Fachgebiet, auch nicht in das meiner Kollegen …«
    »Aber Sie kennen doch sicher Linguisten, die sich auf die Turksprachen spezialisiert haben?«
    »Ja, an der Universität Nanterre …«
    »Könnten Sie vielleicht jemanden anrufen?«
    »Ja. Einen kenne ich sogar recht gut.«
    »Bitte rufen Sie ihn an. Ich brauche unbedingt Ihre Hilfe.«
    Diane verabschiedete sich und unterbrach die Verbindung. Das Chaos in ihrem Kopf begann sich zu beruhigen. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Siebzehn Uhr dreißig. Es war Zeit.
    Zeit für die Reise in ihr eigenes Unterbewusstsein.
    Um noch einmal und in allen Einzelheiten den Unfall auf dem Périphérique zu erleben.
     
     
     
KAPITEL 27
     
    Paul Sacher musste um die Sechzig sein. Er war lang und hager und mit ausgesuchter, ja auffälliger Eleganz gekleidet: Er trug einen grauen Moiré-Anzug, der silbrig schimmerte wie das Blatt einer Axt, und dieser Glanz wurde noch betont durch den Kontrast, den das schwarze Hemd und die schillernden Streifen einer Seidenkrawatte bildeten. Das Gesicht stand der Kleidung in nichts nach: senkrechte Linien, betont

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