Der steinerne Kreis
Thailand, Laos, Vietnam und Malaysia stammt?«
Diane zögerte. »Ich … ja, sicher. Ich habe keinen Anlass, etwas anderes anzunehmen«, sagte sie.
Die Augen des Anthropologen senkten sich wie ein Fallbeil. »Wenn wir uns auf die Gegenden entlang der Küste des Andamanischen Meers konzentrieren«, sagte er, »und die untersuchte Zone sogar noch bis zum Golf von Thailand und zum Südchinesischen Meer ausdehnen, finden wir hier Tropen- und Waldbewohner. «
Wieder heftete er seinen Blick auf Diane.
»Eric sagt mir, Sie sind Ethologin. Sie wissen also, dass der natürliche Lebensraum einen erheblichen Einfluss auf die Körpergröße ihrer Bewohner hat. Im Urwald sind Mensch und Tier wesentlich kleiner als in anderen Lebensräumen wie zum Beispiel in Steppenregionen.«
Sie erwiderte stumm seinen Blick. Brille gegen Brille.
Romans wandte sich wieder seinen Aufzeichnungen zu.
»Die Größe der Menschen in den tropischen Urwaldregionen Südostasiens«, fuhr er fort, »bewegt sich derzeit in einer Bandbreite von hundertzweiundvierzig bis hundertfünfundsechzig Zentimetern. Daraus können wir ableiten, dass die Kinder dieser Volksgruppen im Alter von fünf Jahren im Schnitt siebzig Zentimeter groß sind.«
Wieder ein Blick über den Brillenrand hinweg.
»Wissen Sie, wie groß Ihr Sohn ist, Madame?«
»Über einen Meter, glaube ich.«
»Exakt einen Meter zwölf. Das heißt, er liegt zweiundvierzig Zentimeter über dem Mittelwert.«
»Aha.«
Romans zog ein weiteres Blatt aus dem Stapel.
»Kommen wir zur Pigmentierung der Haut. Über die Hautfarbe der verschiedenen Bevölkerungsgruppen sind zahllose Studien durchgeführt worden, obwohl dies ein heikles und schwer zu definierendes Kriterium ist. Und in der Anwendung sogar gefährlich, aber das brauche ich Ihnen ja nicht zu erzählen. Jedenfalls bestimmen wir die Helligkeit in der Regel mit der sogenannten Reflektometrie. Wir richten einen Lichtstrahl auf die Epidermis des Probanden und messen die von der Oberfläche abgestrahlten Photonen: je heller die Haut, desto größer die abgestrahlte Lichtmenge.«
Diane zügelte ihre Ungeduld. Inzwischen war ihr klar, worauf Romans hinauswollte.
»Wir haben diesen Test mit Lucien durchgeführt«, fuhr er fort. »Die Messung ergab ein Resultat zwischen siebzig und fünfundsiebzig Prozent Reflexionslicht. Die Epidermis Ihres Sohnes strahlt das Licht also weitgehend ab. Seine Haut ist sehr weiß, wie Sie zweifellos selbst bemerkt haben. Sehr weit entfernt von der typischen Hautfarbe der Bewohner tropischer Regionen. Um Ihnen eine Vorstellung zu geben: In der Gegend des Andamanischen Meeres beträgt der Mittelwert fünfundfünfzig Prozent.«
Diane dachte an die extreme Blässe des kleinen Jungen – diese durchscheinende Haut, unter der sich zarte Äderchen schlängelten, wenn er in der Badewanne lag. Wie hatte aus dem Gegenstand staunender Bewunderung auf einmal eine Quelle der Angst werden können?
Der Mann blätterte weiter und fuhr fort: »Da ist noch eine Untersuchung. Über die physiologischen Abläufe. Blutdruck. Herzrhythmus. Blutzuckerspiegel. Lungenkapazität …«
»Haben Sie denn Statistiken für alle diese Kriterien?«, unterbrach ihn Diane.
Der Anthropologe erlaubte sich ein stolzes Lächeln. »Und noch für viele weitere«, sagte er.
»Und Sie haben die Daten meines Sohnes mit der Statistik verglichen?«
Er nickte. »Auch hier sind wir zu einem höchst interessanten Ergebnis gelangt: Wir konnten trotz seines immer noch sehr schwachen Zustands sein Lungenvolumen messen. Der Junge hat eine enorme Lunge! Wie Sie zweifellos wissen, steht die Totalkapazität der Lunge eines Menschen in unmittelbarem Zusammenhang mit der geographischen Höhe seines Lebensraums. Bergbewohner weisen ein größeres Atemvolumen und eine höhere Konzentration roter Blutkörperchen auf als beispielsweise die Talbewohner. Darin kommt die Anpassung an die jeweilige Umwelt zum Ausdruck.«
»Du lieber Himmel, jetzt kommen Sie endlich zum Punkt!«
Der Wissenschaftler nickte bedächtig. »Bei allen diesen Merkmalen weist Lucien Werte auf, die auf ein Leben in größerer Höhe hindeuten und in keinem Aspekt mit den Werten der Urwald- und Küstenbewohner übereinstimmen.«
Es war jetzt so still, dass Diane das Blut in ihren Schläfen pochen hörte. Eine kompakte Stille, die weder von Worten noch von Vermutungen aufgebrochen werden konnte.
Dann fuhr Didier Romans mit seiner eintönigen Stimme fort: »Wenn wir die Ergebnisse auf den drei
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