Der steinerne Kreis
Neige ging und die Bäume in ungeduldige Bewegung gerieten, als freuten sie sich über die anrückende Dämmerung. Diane verzichtete darauf, die Scheinwerfer einzuschalten, um die Umgebung besser wahrzunehmen, die ihr mit wachsender Dunkelheit immer eindringlicher und klarer erschien.
Schließlich hielt sie vor einem hohen, schwarz gestrichenen Gittertor. Als sie ausstieg, war sie überrascht, wie kühl es geworden war: Die Luft schien alle ihre Sinne zu schärfen und ihnen eine neue Empfänglichkeit zu verleihen. Es war sieben Uhr abends, und die Nacht schob ihre mächtigen Schatten vor sich her. Wieder dachte Diane an ihren kleinen Jungen, und ihr Entschluss festigte sich: In wenigen Stunden würde sie einen Teil des Geheimnisses besitzen.
KAPITEL 33
Sie läutete an der Gegensprechanlage, über der eine Kamera montiert war. Keine Antwort. Sie läutete noch einmal: vergeblich. Ohne zu überlegen, drückte sie gegen das Gittertor, das zu ihrer Überraschung nachgab und langsam aufschwang. Sie knöpfte ihren Mantel zu – einen Mantel aus Damhirschleder mit einem Kragen aus feiner Wolle – und ging die kiesbestreute Allee entlang. Mehrere Minuten folgte sie den weiten Rasenflächen. Nichts rührte sich. Das einzige wahrnehmbare Geräusch war das Zischeln der in der Dunkelheit unsichtbaren Rasensprenger. Hinter einem rasenbewachsenen kleinen Hügel erblickte sie endlich den düsteren Museumsbau.
Das Gebäude stammte offensichtlich aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert: eine blockartige Erscheinung mit rechten Winkeln und mächtigen geraden Linien, zusammengesetzt aus wuchtigen Materialien. Graugrüne Bronze. Ockerbraunes Kupfer. Schwarzgrauer Stahl. Sie trat näher. Der zweiflügelige Haupteingang war verschlossen. Kein Lichtschimmer drang durch die metallgefassten Fenster der Fassade. Sie erinnerte sich, dass François Bruner ihr geraten hatte, um das Gebäude herum zur Hintertür zu gehen, die zu seiner Privatwohnung führte.
Düstere Bäume und die Schatten der Nacht umringten den Park, und die windzerzausten Wipfel erzeugten eine raschelnde Blättersymphonie. An der hinteren Seite des Gebäudes läutete sie an einer Tür, doch auch hier rührte sich nichts. Hatte der Professor sie vergessen? Sie wollte zum äußeren Tor zurückkehren, doch dann besann sie sich, ging noch einmal zum Haupteingang, stieg ein paar Stufen hinauf und griff nach der Türklinke.
Wider Erwarten öffnete sie sich.
Diane betrat einen dunklen Vorraum, der in den ersten Ausstellungssaal führte. Nie hätte sie vermutet, dass ein von außen so bedrohlicher Bunker im Inneren mit solchen Räumen aufwarten konnte. Die Wände, der Boden und die Decke waren weiß und leuchteten im Mondlicht, das durch die Fenster fiel. Schon allein diese weißen Flächen waren eine Liebkosung für die Augen, viel mehr noch aber waren es die Bilder: Vierecke voller hellbunter, strahlender Farben, wie Einblicke in eine andere Welt. Diane trat näher und erkannte, dass die Stiftung dem Werk von Piet Mondrian eine Ausstellung widmete.
Sie kannte sich in Malerei nicht aus, doch den niederländischen Künstler, von dem sie selbst etliche Reproduktionen besaß, bewunderte sie über die Maßen. In diesem Saal hingen Werke aus seiner ersten Schaffensperiode: zerfetzte Mühlen mit wunderlichen Flügeln vor glutrotem Himmel, der vom nahen Weltenbrand zu künden schien.
Im zweiten Saal hingen Gemälde aus derselben Periode – Bäume diesmal, Winterbäume, dunkel, feierlich und steif unter einzelnen Lichtreflexen, doch mit den verrücktesten Farbtönen in den Schrunden der Rinde. Auch Frühlingsbäume hingen hier, schwarz und rot, als züngelten Flammen daran empor – eine Explosion von Farben und Licht. In dieser intensiven Vitalität, in diesen glühenden Himmeln hatte Diane immer eine Verheißung gespürt – einen Vorgriff auf die spätere radikale Verwandlung in Mondrians Kunst.
Sie wusste, dass diese Verwandlung im nächsten Saal stattfinden würde.
Sie trat über die Schwelle und lächelte, während sie die Gemälde seiner reifen Schaffensphase betrachtete. Von den zwanziger Jahren an hatten sich Mondrians Bäume gestreckt, linear ausgerichtet, alle Mischfarben abgelegt, hatten die Himmel sich geglättet und geordnet, und der eigentliche Frühling des Malers war angebrochen: nicht mit Blüten und Früchten, sondern mit Quadraten und Rechtecken, geometrischen Formen von absoluter Reinheit. Von diesem Moment an hatte Mondrian nur noch
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