Der steinerne Kreis
eine Reservierung. Wie Rolf van Kaen, wie Philippe Thomas plante auch Jewgenij Talich seine Rückkehr in die Mongolische Republik, hatte sich aber anscheinend noch für keinen bestimmten Termin entschieden.
In diesem Moment hörte sie ein Stöhnen.
Diane fuhr herum. Hinter dem umgestürzten Schreibtisch bewegte sich etwas. Sie ging auf die hölzerne Platte zu, dann nahm sie sich zusammen und wagte einen Blick. Eine Frau lag auf dem Boden, halb verdeckt von einer Flut von Papieren, in einer riesigen Blutlache. Noch nie hatte Diane derart viel Blut gesehen, nicht einmal in der Stiftung Bruner. Der Körper lag völlig reglos, der Wand zugedreht, und Diane erinnerte sich an den alten jüdischen Brauch, Sterbende mit dem Gesicht zur Wand zu drehen, damit sie das Antlitz des Todes nicht sehen mussten.
Sie ging um den Tisch herum und fasste die Frau sanft an der Schulter, um sie zu sich zu drehen. Das Gesicht erkannt sie sofort wieder: Es war die Frau von den Fotos. Ihr Bauch war aufgeschlitzt und klaffte in zwei Lappen auseinander. Der Schlitz begann beim Bauchnabel und reichte bis zu den Brüsten, Kleidungsstücke und Fleisch vermischten sich zu einem schrecklichen, blutigen Brei. Diane versuchte Mitleid zu empfinden, doch kein Gefühl war imstande, ihre Angst zu überdecken. Sie dachte an den Mörder von Thomas und van Kaen: Diese Wunde entsprach nicht seinem Stil. Hatte er daneben gegriffen? Hatte Irène sich gewehrt?
Ihre nächste Entdeckung jagte ihr ein noch größeres Entsetzen ein.
In der rechten Hand hielt Irène Pandove ein Messer, ein Sägemesser mit blutiger Klinge.
Auf einmal schlug sie die Augen auf und murmelte: »Er ist gekommen … Ich durfte nicht … Ich durfte nicht mit ihm reden.«
Vollkommen entgeistert begriff Diane, was geschehen war: Vor den Augen ihres Angreifers hatte sich Irène eigenhändig den Bauch aufgeschlitzt. Sie hatte Selbstmord begangen, um nicht zu reden, um nicht die Informationen preiszugeben, die der Eindringling ihr sonst zweifellos entrissen hätte. Bei allem Tumult ihrer Gedanken entging Diane nicht, wie schön dieses Gesicht unter dem halb aufgelösten Knoten und den blutigen Haarsträhnen war.
»Ich durfte nicht mit ihm reden …«
»Mit wem? Wer war hier?«
»Die Augen … Ich hätte mich nicht wehren können … Ich durfte ihm nicht sagen … wo Jewgenij ist …«
»Die Augen«: wen meinte sie damit? Denjenigen, der seinen Opfern den Bauch aufschlitzte? Einen anderen von Thomas’ ausgeschickten Handlangern? Oder einen Dritten? Aber da war ein noch dringenderes Anliegen. Diane beugte sich vor und fragte: »Lucien … Wo ist Lucien?«
Der Mund der Sterbenden zuckte, als wollte sie lächeln, als wäre sie trotz allem froh, noch einmal den unschuldigen Namen des Kindes zu hören. Sie bewegte die Lippen, ihr Mund füllte sich mit Blut. Diane wischte es mit dem Ärmel fort. Das Röcheln artikulierte sich zu einem Wort: »Halbinsel.«
»Was?«
Wieder rann dunkles Blut die Mundwinkel herab. Die Lippen
flüsterten: »Auf dem See. Die Halbinsel. Dorthin geht er immer …«
Diane unterdrückte ihr Schluchzen und versuchte die Frau zu beruhigen: »Man wird Ihnen helfen. Ich rufe sofort den Notarzt …«
Mit blutiger Hand griff Irène nach Dianes Handgelenk, ihre Augen öffneten sich weit, und dann war es vorbei: Ihre Pupillen erstarrten zu einem Ausdruck ewiger Verblüffung.
KAPITEL 39
Diane umrundete den rechten Flügel der Ranch, ging durch das Tor und folgte dem Weg, der sich bis zu dem fichtenbewachsenen Hügel schlängelte. Unterdessen war das Gewitter ausgebrochen, und im Licht der Blitze sah Diane hin und wieder die regengepeitschte Wasserfläche aufschimmern. Sie stieg den Hang hinab bis zum Ufer. Ein langer Gürtel aus Bäumen und Schilf trennte sie vom Wasser; an ein Durchkommen war nicht zu denken. Instinktiv wandte sie sich nach rechts und begann zu laufen.
Bald verlor der Boden an Festigkeit. Die pflanzlichen Gerüche wurden schwerer und zugleich intensiver, schärfer, und es war, als wäre der See über den Rand getreten, um den bewachsenen Uferstreifen in ein ausgedehntes Sumpfgebiet zu verwandeln. Im Laufen nahm Diane die Metamorphose wahr – das Grün des Unterholzes, die Gleichgültigkeit der Flora, lasziv und hemmungslos, die zwischen Grasbüscheln und belaubtem Gezweig immer öfter den See aufblitzen ließ. Das Parfüm der Erde war hier das Wasser. Ein Tupfer auf einem Nacken aus Humus, bedeckt von einer Mähne Unkraut … Im Geist
Weitere Kostenlose Bücher