Der steinerne Kreis
das Kind in einen der Wandbehänge gewickelt und sich selbst in einen alten Regenmantel. Dann hatte sie den Jungen in ihren Wagen gelegt und war mit ihm nach Nizza gefahren, zur Notaufnahme des Krankenhauses Saint-Roch. Es war erst zwei Uhr nachmittags, doch sie hatte das Gefühl, als wäre sie in der kurzen Zeit um Jahre gealtert.
»Darüber hinaus ist ein außergewöhnlich hohes Fieber festzustellen«, fuhr der Arzt fort. »Knapp einundvierzig Grad. Die Ursache haben wir momentan noch nicht feststellen können: Die äußerliche Untersuchung hat nichts ergeben; die Blutprobe liefert keinen Hinweis auf eine Infektion. Wir müssen die Ergebnisse der übrigen Analysen abwarten. Es kann sich natürlich auch um einen chronischen Zustand handeln, aber eine Epilepsie ist aufgrund der Symptome auszuschließen, und …«
»Ist er in Gefahr?«
Der Kittel des Arztes war derart zerknittert, als hätte er darin geschlafen. Er setzte eine zweifelnde Miene auf: »Im Prinzip nicht. In seinem Alter bedeuten diese Krämpfe kein sehr großes Risiko, und das Fieber sinkt bereits. Auch der kataleptische Zustand scheint sich zu lösen. Ich würde sagen, das Kind hatte offensichtlich eine Art … Krise, aber das Schlimmste ist überstanden. Wir müssen allerdings die Ursache herausfinden.«
Diane dachte an den Steinkreis und den Schädel auf der Pyramide aus Zweigen. Konnte sie das dem Arzt erklären? Konnte sie ihm mitteilen, dass der kleine Junge vermutlich eine schamanistische Trance erlebt hatte?
»In welcher Beziehung stehen Sie eigentlich zu dem Kind?«, fragte der Arzt.
»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt: Er ist der Adoptivsohn einer Freundin.«
Er warf einen Blick auf seine Karteikarte. »Irène Pandove, nicht wahr?«
Diesen Namen hatte sie in der Notaufnahme angegeben, damit man das Kind identifizieren konnte, sobald sie wieder fort war.
»Und wo ist diese Madame Pandove?«, fragte er weiter.
»Ich weiß es nicht.«
»Aber das Kind … Sie haben den Jungen einfach so gefunden? War er allein?«
Diane wiederholte ihre Geschichte: Sie habe ihre Freundin besuchen wollen, das Haus leer vorgefunden und Lucien Pandove allein im Sumpf entdeckt. Die tote Frau erwähnte sie nicht. Sie hatte keine Skrupel, Halbwahrheiten zu erzählen, in wenigen Minuten war sie ohnehin fort: Dreht man sich um, wenn man mit dem Rücken zum Abgrund steht?
Der Arzt war skeptisch. Ostentativ musterte er Dianes triefenden Regenmantel, die Kampfspuren in ihrem Gesicht, die verkrustete Wundnaht an ihrer Nase – das Pflaster hatte sich im Regen abgelöst.
»Ich muss telefonieren«, sagte sie abrupt.
Bei ihrem Lauf rund um den See hatte sie ihr Mobiltelefon verloren. Der Arzt wies auf den Apparat auf seinem Schreibtisch. »Kein Problem«, sagte er, »Sie können von hier aus …«
»Ich wäre gern allein.«
»Gehen Sie ins Büro nebenan. Meine Sekretärin wird Sie verbinden.«
»Ich muss allein sein. Bitte.«
Mit einer unbestimmten Geste deutete der Arzt auf die Tür und brummte: »In der Eingangshalle sind Telefonzellen.«
Diane stand auf. Mit gerunzelten Brauen fügte er hinzu: »Ich warte auf Sie. Wir haben noch einiges zu besprechen, Sie und ich.«
»Selbstverständlich«, sagte sie lächelnd. »Ich bin gleich wieder da.«
Sie hatte noch nicht die Tür hinter sich geschlossen, als sie hörte, wie der Telefonhörer abgenommen wurde. Die Bullen, dachte sie, der Idiot ruft die Bullen an. Im Laufschritt hastete sie durch den Korridor.
In der Eingangshalle des Krankenhauses kaufte sie sich am Zeitungskiosk eine Telefonkarte. Sie zog sich in eine Telefonzelle zurück und rief direkt den Apparat von Eric Daguerre am Krankenhaus Necker an. Eine neue Ahnung plagte sie: Was, wenn Lucien ebenfalls in Trance gefallen war? Aus Gründen, die sie nicht erklären konnte, fürchtete sie eine Synchronizität der Ereignisse – eine Gleichzeitigkeit, ein wechselseitiges Echo zwischen den beiden Kindern und ihren Symptomen.
Diane wurde mit dem Stationszimmer verbunden, wo man ihr sagte, der Arzt sei im OP. Weil ihr nichts Besseres einfiel, fragte sie nach Madame Ferrer. Die Schwester kam an den Apparat und bestätigte ihren Verdacht: Lucien, teilte sie mit, habe einen heftigen Fieberschub mit Anzeichen von Katalepsie erlitten, aber inzwischen habe sich sein Zustand weitgehend normalisiert – das Fieber sei gesunken, die Muskelkrämpfe hätten nachgelassen. Doktor Daguerre habe eine Reihe von Untersuchungen angeordnet, und man warte auf die Ergebnisse.
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