Der steinerne Kreis
dankte sie der Landschaft für ihre Macht und Allgegenwart: Sie hinderte sie daran, an irgend etwas anderes zu denken.
Zu ihrer Linken öffnete sich eine Lücke im Gestrüpp: ein Pfad. Diane bog ab und drang immer tiefer ins Gewölbe der Äste vor. Den Regen spürte sie nicht mehr; stattdessen nahm sie die Binsen, Schilfrohre, kleinen Zweige, die sie streiften, wie eine Liebkosung wahr. Erst jetzt kam sie zum eigentlichen Ufer und blickte auf die Fläche des Sees hinaus. Von ihrer Warte aus wirkte er eher wie ein Meer – eine silbrig graue Weite, auf die der Regen prasselte, konturlos, ohne irgendeine klare Grenze.
In dem Moment erkannte sie die Halbinsel.
Auf der rechten Seite, einige hundert Meter entfernt, ragte eine sandige Landzuge in den See und schob sich knapp über der Wasseroberfläche bis zu einem Wäldchen vor. Eine Halbinsel im Süßwasser, nicht einmal auf Salz ruhend, nur auf reiner Transparenz. Hatte das Kind sich womöglich unter diesen Bäumen versteckt?
Diane steckte ihre Brille ein und zog sich die Schuhe aus, die sie an den Schnürsenkeln zusammenband und sich um den Hals hängte. Dann ging sie weiter, in eine verschwommene, grüne, phantastische Landschaft hinein, und watete auf dem schlammigem Grund des Sees zwischen Wasserpflanzen auf die Landzunge zu. Bis über die Knie kroch ihr die beißende Kälte des Wassers und bildete einen deutlichen Kontrast zu dem vergleichsweise lauen Regen von oben. Inzwischen war sie nass bis auf die Haut, in Bächen rann das Wasser an ihr herab. Sie fühlte sich vom See wie aufgesogen und gleichzeitig vom Regen niedergedrückt: im wahrsten Sinn des Wortes zwischen zwei Wassern.
Endlich erreichte sie das Gestrüpp am Ufer der Halbinsel. Zwischen niedrigen Weiden kletterte sie an Land und kämpfte sich durch die Vegetation, vornüber gebeugt, außer Atem, froh um jede Lücke. Wo war Lucien? Sie ging weiter. Wasserlachen, grün und gefräßig, öffneten sich vor ihr und behinderten sie, und der einzige Weg führte mitten hindurch. Bis zur Hüfte tauchte sie hinein und schwenkte die Arme von vorn nach hinten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ringsum entdeckte sie schon die flüchtig aufblitzenden Schuppen von Fischen, die sich in dieses überwucherte Labyrinth verirrt hatten. Auf einmal spürte sie, wie der Boden unter ihren Füßen wieder fester wurde. Sie war am anderen Ende der Insel angelangt und hatte nichts gesehen noch … Jäh blieb sie stehen.
Da war er.
Zwanzig Meter von ihr entfernt saß er da, am äußersten Rand der Insel, mit dem Rücken zu ihr, das Gesicht emporgereckt.
Sie sah ihn nicht sehr deutlich, doch ihr erster Gedanke war Erleichterung. Seiner Gestalt nach war er Lucien – ihrem Lucien – in keiner Weise ähnlich. Ohne es sich einzugestehen, hatte sie sich düstere Szenarien ausgemalt: Zwillinge, Klone gar, irgendein monströses Erzeugnis eines geheimen sowjetischen Forschungslabors, das anstelle des Tokamak eingerichtet worden war.
Aber nun zeigte sich, dass die beiden Kinder völlig verschieden aussahen; außerdem war dieser Junge mindestens zwei Jahre älter. Sie begann wieder normal zu atmen und trat einen Schritt näher. Er saß mit gekreuzten Beinen da und rührte sich nicht. Diane betrachtete ihn von vorn und sah seine verdrehten Augen, das scharlachrote Gesicht: Er war in tiefer Trance. Seine Gliedmaßen waren starr wie Metallstangen. Er zitterte, doch es war wie ein kaum wahrnehmbares, elektrisches Beben. Wie eine im Körper gefangene Welle.
Diane streckte die Hand aus und berührte seine Stirn. Sie war kochend heiß. Nie hätte sie gedacht, dass ein Mensch so heiß werden kann.
Sie beugte sich hinab, um besser sehen zu können, und stockte mitten in der Bewegung. Vor dem Kind war eine Art Altar errichtet: ein Kreis aus weißen Steinen, in der Mitte eine Pyramide aus übereinander geschichteten dürren Zweigen, an denen winzige Bänder festgebunden waren; darauf balancierte ein zerbrechlicher Schädel – der Schädel eines jüngst geschlachteten Hamsters oder Meerschweinchens. Diane dachte an den leeren Käfig im Haus und begriff: Das Kind hatte das Tier bei einem schamanistischen Ritual geopfert.
KAPITEL 40
»Wir haben eine stark erhöhte neuromuskuläre Erregbarkeit festgestellt, die sich in konvulsivischen Zuckungen und Muskelkrämpfen äußert.«
Wieder ein Krankenhaus. Wieder ein medizinischer Vortrag.
Binnen weniger Minuten war Diane in das Haus von Irène Pandove zurückgekehrt, hatte
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