Der steinerne Kreis
Abschließend teilte Madame Ferrer ihr mit, dass Didier Romans dringend versucht habe, sie zu erreichen.
»Wo ist er?«, fragte Diane.
»Hier auf der Station, in unseren Büros.«
»Geben Sie ihn mir.«
Eine Minute später ertönte die Stimme des Anthropologen: »Madame Thiberge, Sie müssen unbedingt ins Krankenhaus kommen
»Was ist los?«
»Ein außergewöhnliches Phänomen!«
»Sie meinen Luciens Trance?«
»Er hat eine Art Trance erlebt, das stimmt. Aber es geht mir um etwas anderes.«
»UM WAS?«
Der Mann schien zu begreifen, wie beunruhigend seine Ankündigung klang. »Keine Sorge«, sagte er rasch. »Es besteht keine Gefahr für Ihr Kind.«
»Was ist los?«, wiederholte Diane, jede Silbe betonend.
»Das lässt sich am Telefon schwer erklären, Sie müssen es selbst erleben. Ich meine, man muss es sehen.«
»In drei Stunden bin ich da«, sagte Diane knapp.
Sie hängte den Hörer ein. Auf einmal bekam sie in der überheizten Klinikatmosphäre keine Luft mehr. Sie spürte ihre vom Regen zusammengeklebten Haare, ihren schweißnassen Kragen. In ihren Gedanken tat sich ein neuer Abgrund auf: Wie konnten die beiden Kinder achthundert Kilometer voneinander entfernt zur selben Zeit dieselbe Krise erleben? Und was war dieses neue Phänomen, das der Anthropologe erwähnt hatte?
Vierzehn Uhr dreißig. Sie warf einen Blick zum Haupteingang, innerlich darauf gefasst, einen Trupp von Gendarmen auftauchen zu sehen: Polizisten, die sie über Lucien ausfragen wollten, über seine Herkunft und den Tod von Irène Pandove, deren Leiche gewiss bald entdeckt würde.
Sie musste nach Paris zurück. Sie musste ihren kleinen Jungen sehen. Sie musste Patrick Langlois alles erzählen – er allein konnte sie decken, sie vor der Maschinerie der Justiz in Schutz nehmen. Sie rief den Inspektor auf seinem Funktelefon an.
Langlois ließ sie gar nicht erst zu Wort kommen. »Wo stecken Sie denn jetzt schon wieder, in Gottes Namen?«, fragte er.
»In Nizza.«
»Und was treiben Sie dort?«
»Ich musste jemanden besuchen …«
In seinem Ton schwang eine gewisse Erleichterung mit. »Ich dachte, Sie hätten sich endgültig aus dem Staub gemacht.«
»Wieso denn?«
»Das kann man bei Ihnen nie wissen.«
Diane ließ ein paar Sekunden verstreichen. In dieser Stille breitete sich ein unerwartetes Gefühl von Vertrautheit und Nähe aus, wie sie es noch mit keinem anderen Menschen erlebt hatte. Bevor sie womöglich in Tränen ausbrach, stieß sie hastig hervor: »Patrick, ich sitze in der Scheiße.«
»Sie verblüffen mich.«
»Das ist kein Witz. Ich muss Sie sehen. Ihnen was erklären.«
»Wann können Sie in Paris sein?«
»Vielleicht in drei Stunden.«
»Ich erwarte Sie in meinem Büro. Ich habe auch Neuigkeiten.«
Diane hörte aus seiner Stimme eine Sorge heraus, die ihr in dieser Eindringlichkeit neu war. »Was ist es? Was haben Sie herausgefunden?«
»Das erzähle ich Ihnen persönlich. Aber passen Sie auf sich auf.«
»Warum?«
»Weil Sie möglicherweise tiefer in diese Sache verwickelt sind, als ich dachte.«
»Wie bitte?!«
»Ich warte im Präsidium auf Sie.«
Diane verließ die Telefonzelle und trat durch die automatische Tür nach draußen. Die Straße war von einem Teppich aus welken roten Blättern bedeckt. Als sie in ihren Wagen stieg, hatte sie das Gefühl, als liege hinter ihr der Herbst persönlich auf der Lauer.
KAPITEL 41
Gegen neunzehn Uhr traf Diane Thiberge im Krankenhaus Necker ein. Didier Romans erwartete sie im Zustand äußerster Aufregung. Sie wollte zuerst Lucien sehen, doch der Anthropologe winkte ab. »Mit ihm ist wirklich alles in Ordnung«, versicherte er ihr. »Das hat Zeit. Zuerst haben wir etwas Dringenderes zu tun.« Sie waren auf dem Weg zum Lavoisier-Gebäude, wie sie mit einem Anflug von Unbehagen erkannte: Zu viele quälende Erinnerungen waren damit verbunden.
Als sie auf den CT-Raum zugingen, wuchs ihre Unruhe. Sie sah die weißen Mauern, die gleißenden Neonlampen vorüberziehen – wie eine weitere gerade Linie zur Gewalt.
»Bei meinen ersten Recherchen war mir schon etwas Seltsames aufgefallen«, begann der Anthropologe. »Aber ich wollte Sie nicht beunruhigen.«
Diane hätte beinahe angefangen zu lachen. Anscheinend hatten sich alle verschworen, sie nur ja nie zu beunruhigen, egal, was passierte. Das fröhliche Komplott der Unbeschwertheit.
Sie betraten den Untersuchungsraum, der voller Monitore und Konsolen war. Romans setzte sich an den Hauptrechner –
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