Der steinerne Kreis
Telefonbuch.
In ernstem und ruhigem Ton fuhr die Frau fort: »Sie sind nicht genügend auf der Hut, und das ist schlecht.«
Diane spürte ein Prickeln im Nacken. »Was wollen Sie von mir?«, fragte sie feindselig.
»Ich möchte Sie treffen. Ich habe Informationen, die Sie vielleicht interessieren.«
»Kannten Sie Rolf van Kaen?«
»Indirekt, ja. Aber nicht über ihn will ich mit Ihnen reden.«
Diane schwieg. Sie dachte: eine Verrückte, die mir auf die Nerven gehen will. Vielleicht will sie auch nur Geld aus mir herauspressen. »Sondern?«, fragte sie schließlich.
»Über den kleinen Jungen, den ich vor fünf Wochen adoptiert habe.«
Kälte kroch ihr unter die Haut, als breitete sich eisiges Blut durch das Geflecht der Adern aus.
»Wo … wo haben Sie ihn adoptiert?«
»In Vietnam. Vom Waisenhaus Huai.«
»Über die Vereinigung Boria-Mundi?«
»Nein. Pupilles du monde. Aber darum geht es nicht.«
»Worum geht es dann?«
Irène Pandove ignorierte die Frage und fuhr im selben friedlichen Tonfall fort: »Sie werden zu mir kommen müssen. Ich kann zur Zeit nicht weg. Meinem Sohn geht es seit ein paar Tagen nicht gut.«
Die Temperatur in Dianes Adern sank auf Null. »Was hat er? Hatte er einen Unfall?«, fragte sie.
»Fieber. Extrem hohes Fieber.«
Diane dachte an Lucien. An die Fieberanfälle, die nach der Akupunktur-Behandlung eingetreten waren, an Daguerre, der ihr versicherte, das Phänomen sei nicht weiter schlimm. Und auf einmal fiel ihr die Ahnung wieder ein, die sie vor zwei Nächten kurz vor dem Einschlafen ergriffen hatte: Irgendwo auf der Welt musste es jemanden geben, der ihren Alptraum teilte …
Irène Pandove fuhr fort: »Kommen Sie mich besuchen. So bald wie möglich.«
»Wohin? Wo wohnen Sie?«
Die Frau lebte knapp tausend Kilometer von Paris entfernt, in Daluis, im Hinterland von Nizza. Diane notierte sich Adresse und Wegbeschreibung. Sie dachte schon über die Reise nach. Die erste Morgenmaschine. Ein Leihwagen. Kein Problem. »Ich komme morgen«, versicherte sie. »Irgendwann gegen Mittag.«
»Ich erwarte Sie.«
Die Stimme war von einer beunruhigenden Sanftheit. Auf einmal hatte Diane eine Erleuchtung und fragte: »Sagen Sie, wie haben Sie Ihren kleinen Jungen genannt?«
Die Sanftheit, das Lächeln waren spürbarer denn je. »Das fragen Sie? Dann haben Sie nicht begriffen, was da abläuft.«
Diane ließ alle Hoffnung fahren; als bliese sie eine Kerze aus, flüsterte sie vor sich hin: »Lucien …«
KAPITEL 38
Um acht Uhr dreißig landete Diane in Nizza. Eine halbe Stunde später war sie auf dem Weg ins Hinterland, ohne dass sie auch nur einen Blick auf das Mittelmeer geworfen hatte. Entlang der Nationalstraße 202 zog sich eine endlose Reihe aus Häusern, Gewerbezentren, Industrieanlagen durch Täler und über Hügel. Bei Saint-Martin-du-Var veränderte sich die Landschaft, die bebauten Flächen rückten weiter auseinander, Dunkelgrün und Felsgrau gewannen an Terrain, und schließlich stiegen steil die Berge auf.
Sie durchfuhr jetzt eine typische Höhenlandschaft: dicht aneinander gedrängte Kiefern vor jähen Abhängen, schwarze Kuppen, die in den Himmel ragten, die dunklen Einschnitte trockener Flussbetten … Der Himmel war bedeckt – keine Rede mehr von mildem Meeresklima oder provenzalischer Vegetation: Hier herrschten Fels und Kälte. Diane folgte noch immer der Nationalstraße über dem ausgetrockneten Bett des Var.
Nach einer Stunde Fahrt und endlosen Kurven und Kehren öffnete sich vor ihr endlich die Landschaft, die sie erwartete: ein See in einer Talsenke, wie ein Spiegel, der das Gewitterlicht zurückwarf. Die Wasserfläche, wechselnd zwischen Grau und Blau, war gesträubt von kleinen Wellen, die sich wie stählerne Klingen aufrichteten. Ringsum spann sich ein Gewebe aus Smaragdgrün. Die Nadelbäume, emporgerichtet wie Messer, schienen die Wolken zu ritzen. Diane erschauderte. Sie spürte die Brutalität jedes Gipfels, jeder Spiegelung, jedes Details dieser Landschaft, geschärft vom Licht der fieberhaften Sonne, die durch die Düsterkeit des Himmels stach.
Nach einer Kurve kam sie zu einer Lichtung. Ein paar Meter vom Ufer bildeten Häuser und Wirtschaftsgebäude aus Rundhölzern einen Weiler. »Eine U-förmige Ranch am Seeufer«, hatte Irène Pandove gesagt. Diane bog in die Straße ein, die sich zum See hinunter schlängelte.
Ein Schild am Straßenrand kündigte das »Sommerlager Ceklo« an, zu dem ein Kiesweg hinabführte. Mit jeder Kurve
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